Kunst, bevor es zu spät ist

Immer mehr Aussteller zeitgenössischer Kunst richten sich mit ihren Angeboten an die Jungen und ganz Jungen. Ihr Glaube: Wer mit 16 noch nicht im Museum war, bleibt für immer draußen

VON JOHANNES SCHNEIDER

12-Jährige enträtseln Joseph Beuys, Grundschüler deuten Duane Hansons „Supermarket Lady“, und die ganz Kleinen (3-5 Jahre) zeichnen wie Picasso. Dass ausgerechnet Gegenwartskunst – also das, wo selbst gestandene Akademiker oft ratlos davor stehen – eine passende Spielwiese für den Nachwuchs sein soll, scheint auf den ersten Blick etwas abgehoben. „Stimmt nicht“, sagen die Museumspädagogen der großen Ausstellungen in NRW – und drehen den Spieß einfach um: Wer als Kind nicht sehen gelernt habe, lerne es nie, sagen sie – und überbieten sich gegenseitig mit kreativen Betreuungsangeboten für Kinder jeder Altersstufe.

„Kinder haben noch keine festgefahrenen Bilder. Die begeistern sich für alles – von Pop Art über Jonathan Meese bis Ernst Ludwig Kirchner“, sagt Christiane Heuwinkel von der Kunsthalle Bielefeld. Neben „Mitmachführungen“ für Eltern und Kinder ist man in Bielefeld besonders stolz auf die sogenannten „Kinder-Vernissagen“, die parallel zu den eigentlichen Vernissagen stattfinden: Während die Eltern sektnippend durch die Ausstellung ziehen, befassen sich die Kinder in einer „Malstube“ mit dem jeweiligen Künstler. Und das soll mehr sein als reine Beschäftigungstherapie: „Die Kinder sollen sich danach in der Ausstellung auskennen“, sagt Kirchner und meint das nicht nur im Sinne von räumlicher Orientierung: „Bildung ist, wenn einem zu etwas etwas einfällt. Und wenn die das dritte Bild kennen, entwickeln auch Vorschulkinder Kriterien, denen man zustimmen kann.“

Davon, dass Kinder bei Kunst eine wirkliche ästhetische Erfahrung machen, ist auch Irmgard Gercke überzeugt. Gercke betreut das museumspädagogische Programm des Aachener Ludwigsforums für moderne Kunst. „Im Museum kann man sich nähern, ohne angepöbelt zu werden“, sagt Gercke und erklärt die Möglichkeiten kindlicher Kunsterkundung an einem Beispiel, der „Supermarket Lady“ von Duane Hanson. Diese lebensgroße Plastik einer Frau mit vollgepacktem Einkaufswagen übe auf Kinder aufgrund der Detailtreue eine große Faszination aus. „Und schon ist man in einer ästhetischen Diskussion: Warum hat der Künstler so realistisch gearbeitet? Warum macht der einfach das nach, was auch wirklich so ist?“ Natürlich müsse die Arbeit mit Kindern aber über die reine Betrachtung hinausgehen: Das Aachener Museum bietet zur Ergänzung des Ausstellungsbesuches neben Mal- und Bastelkursen die Möglichkeit, sich den Kunstwerken tänzerisch oder über das kreative Schreiben zu nähern: „Es gibt Kinder, die sich nicht so gut äußern können. Die finden oft ein Medium in der praktischen Arbeit.“

Die gestalterische Komponente sei gerade in der Region an Rhein und Ruhr wichtig, erklärt auch Cornelia Brüninghaus-Knobel vom Duisburger Wilhelm-Lehmbruck-Museum. Denn hier kämen mit den Schulklassen auch viele Kinder aus bildungsfernen Schichten in die Ausstellungen. Die Kunsthistorikerin ist Museumspädagogin der ersten Stunde und hat selbst miterlebt, wie im Zuge von 1968 eine Sammlung nach der anderen ein Kinder- und Jugendprogramm auf die Beine stellte. Heute blickt Brüninghaus-Knobel etwas desillusioniert auf das damalige Ziel, bildende Kunst zum Gemeingut zu machen. Sie sei ein realistischer Mensch, sagt sie, sie mache sich keine Illusionen bezüglich der Nachhaltigkeit und Breitenwirkung ihrer Bemühungen. „Und trotzdem bin ich gerührt, wenn so ein kleiner Knopf in den Lehmbruck-Trakt kommt und es toll findet, einfach weil der Raum so anders ist, als alles, was er bisher kennt.“ Dies seien Erfahrungen, die bei den Kindern haften blieben. Und die ließen sich später nur schwer nachholen.