: Wir sind alle okay
Pop Zum Abschluss einer dunklen Sommerwoche spielen die Indie-Rocker Arcade Fire in der Berliner Wuhlheide alte Hymnen und neue Disco-Hits für die Generation Y
von Steffen Greiner
Kurz vor dem Konzert: Endlich blauer Himmel, zum ersten Mal seit Tagen in Berlin. Als sich hier zum letzten Mal die Sonne blicken ließ, machte Castorf noch Volksbühne, es gab linke Prestigeprojekte in Neukölln und die Ehe war definiert als eine Lebensgemeinschaft von Mann und Frau. Das war am Mittwoch, jetzt ist Sonntag, aber das Publikum hier wirkt schon eher so, als ob alle diese Ereignisse ihm etwas egal sind, es ist schließlich immer noch die Wuhlheide, das riesige Open-Air-Rund im Südosten mit Platz für 17.000 Menschen, und es ist ein recht repräsentativer Schnitt durch die Jahrgänge der Achtziger und frühen Neunziger: Die Generation Y huldigt einer ihrer größten Bands.
Die Karriere der Gruppe Arcade Fire begann in jenem kurzen Sommer der kanadischen Kollektive: 2005 schien sich allerorten die feste Bandstruktur aufzulösen, große Gruppen mit langen Namen, zumeist aus Montreal, traten ins Licht der breiten Öffentlichkeit. Arcade Fire, von Anfang an designierte Szene-Heroen, hatte ein Fundament, das Ehepaar Win Butler und Régine Chassagne, aber baute darauf einen eigenwilligen, theatralischen Klangkosmos. David Bowie war Fan der ersten Stunde. Vielleicht inspirierte er auch den radikalen Kurswechsel, den die Band nach ihrem dritten, äußerst erfolgreichen Album „The Suburbs“ vornahm: Weg vom dramatisch erzählten Indie, hin zum großgeschriebenem, herrlich discoiden Pop des Albums „Reflektor“.
In diesem Geiste eröffnete die Band nach einem angenehm krautigen, aber wenig memorablen Set der Gruppe Beak um Portisheads Geoff Barrow, das zwischen den verhüllten Requisiten und Bühnenaufbauten des Hauptacts etwas lieblos arrangiert wirkte, das Konzert mit der Single „Everything Now“ vom gleichnamigen, Ende Juli erscheinenden fünften Album: Ein Abba-Rip-off, das man sich erst mal leisten können muss.
Massiver Hit, merkt man in diesem Setting, begleitet von massiv wirkungsvollen Videoprojektionen von Sonnenuntergängen in der Wüste, in diesem Set, das vor Hits strotzt: Es folgen „Rebellion (Lies)“ vom Debüt „Funeral“ und „Here Comes the Night Time“ von „Reflektor“, dann fast zwei Stunden Best-of. Während denen immer jemand irgendwas machen muss hier: klatschen, springen, Trommel schlagen.
Neun Menschen sind teilweise auf der Bühne. Allein: So ganz nimmt man diesen Profis den spielerischen Überschwang nicht ab – zumal Win Butler immer mehr ein klassischer Frontmann wird. Daneben werben Banner für die (es steht zu vermuten: Fake-)E-Commerce-Plattform „Everything Now“, Teil eines etwas bemühten Gesamtkunstwerk-Promo-Konzepts: Arcade Fire hängen fest zwischen CocoRosie und Jay-Z.
In frühen Tracks formulierte sich jugendliche, dystopische Panik, die Fantasie, eine neue Zivilisation zu gründen in der Eiszeit der alten Erde. Im neuen Song „Creature Comfort“, einer Indie-Version der BeeGees + Michael Jackson + Daft Punk, das die Band kurz vors Showfinale rückt, singt Butler davon, dass seine Musik einst einen Suizid verhinderte, Message: Wir sind alle okay. Es ist so vage und zugleich so sehr des eigenen Einflusses auf eine ganze Menge Menschen bewusst, dass dieser einfach verpufft. 2017 strömt die Musik der Gruppe in alle Richtungen, reißt die Popgeschichte mit und bleibt dennoch immer als distinkter Arcade-Fire-Sound erkennbar und grandioser denn je. Sie erreichen so viele Menschen wie kaum eine andere Rockband dieser Tage. Früher waren Arcade Fire hysterische Megalomanie. Heute sind sie einfach fast objektiv groß, aber auf eine Art ungebrochen, die das schwer erträglich macht.
Zum Abschluss bittet Butler, das Licht im Rund zu löschen, im Hintergrund die ersten Takte des Schunklers „Neon Bible“. Doch in den Rängen wird es, ganz im Gegenteil, auf einmal hell. Tausende Handytaschenlampen schenken dem intimen Finale die Anmutung einer nächtlichen Baustelle. Es scheint ein passendes Bild für die Intimität und Intensität, die Arcade Fire auch in ihrer aktuellen Hyper-Pop-Phase noch reklamieren, die es aber hier nicht mehr geben kann. Die Generation Y hat einen kollektiven Bowie gewollt. Bekommen hat sie ihren Bono.
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