Stiftung Wählertest

Vom offenen Wahlergebnis ließen sich manche Beteiligte sogar zur Wählerbeschimpfung verleiten – inzwischen geht’s uns allen aber wieder besser

von ARNO FRANK

Er wandert. Er wankt. Er zaudert. Er zittert, der Angsthase, und dann entscheidet er sich „erst auf den letzten Metern“, wie die hilflosen Demoskopen klagen, genau genommen erst auf dem allerletzten Quadratmeter: in der Wahlkabine. Glaubt man den Worten, die enttäuschte Politiker unter Schock in TV-Kameras sagen, dann liegt die Schuld am unerwartet offenen Wahlergebnis eindeutig am Wähler, diesem Mistkerl. Oder an der Wählerin, noch schlimmer.

Monatelang wurde „der Souverän“ von der Politik umworben und von den Meinungsforschungsinstituten befragt. Nun entpuppt er sich als inkompetenter, verantwortungsloser Hallodri. Und dabei dachten wir doch, Deutschland läge auf politisch erdbebensicherem Gebiet.

„Italienische Verhältnisse“ mit Minderheitsregierungen, ständig wechselnden Koalitionen und Verfassungsänderungen gab’s höchstens in Italien. Hierzulande gewöhnten wir uns an Wahlen mit eindeutigen Ergebnissen, die für klare Verhältnisse in einem naturgegeben stabilen System sorgten. Gutes Gefühl. Falls es doch mal zu einer Verwerfung kam, dann resultierte daraus kein Chaos, sondern eine neue Kontinuität. Das Votum der Wähler konnten die jeweiligen Sieger dann als „gut“, die Verlierer als „schlecht“ bezeichnen.

Erste Auflösungserscheinungen zeigte diese fast schon digitale Dialektik bei den Bundestagswahlen vor drei Jahren. Wieder interpretierten die Regierungsparteien das Ergebnis als „gut“ und die Oppositionsparteien als „schlecht“. Neu war nur, dass alle zusammen das Votum der Wähler auch irgendwie „überraschend“ fanden.

Auch diesmal sind am Wahlabend alle Beteiligten überrascht worden – allerdings von einem Ergebnis, das jede lieb gewonnene Eindeutigkeit vermissen ließ. Ist das jetzt „gut“? Ist es „schlecht“? Nichts von beidem, sondern bis auf weiteres Verhandlungssache. Und damit eindeutig „schwierig“. Oder, um mit Günther Beckstein von der CSU zu sprechen: „Da hat uns der Wähler ein Ergebnis hingelegt, mit dem niemand etwas anfangen kann“ – vor allem nicht Angela Merkel damit, umgehend los- und „durchzuregieren“.

Fairerweise sei gesagt: Becksteins Wählerbeschimpfung ist nur eine Nachzündung des instinktiven Gezeters, mit dem Politiker aller Parteien in den ersten Tagen nach der Wahl ihrer Enttäuschung Luft machten. Mit hängenden Mundwinkeln, tiefen Sorgenfalten und ernstem Kopfschütteln quittierten sie einen unwägbaren Wählerwillen, der doch im Wahlkampf noch so stabil schien. Die Inhalte hätte man den Menschen „besser erklären“ müssen, hieß es in einer ersten Wahlkampfmanöverkritik der Union – und wirkte Angela Merkel nicht wie eine betroffene Pädagogin, die an der bestürzenden Dummheit ihrer Schützlinge zu verzweifeln droht?

Über die „zittrige Hand“ der Wähler beschweren sich die brüskierten Demoskopen und raunen von einem „schwarzen Tag“ für die Meinungsforschung, nur weil sich das Objekt ihrer Forschung entzogen hat. Eine Forschung übrigens, die uns mit ihrem Zahlenzauber täglich weismachen wollte, Meinungen seien messbar wie elektromagnetische Ströme.

Renate Köcher von Allensbach beispielsweise kann sich den Reinfall nur damit erklären, dass die befragten Wähler sich „nicht an ihr Wort gehalten“ hätten. Kein Wunder also, dass auch Vertreter der Wirtschaft einfach nur „enttäuscht“ sind von einem renitenten Wähler, der wider besseres Wissen „stabile Mehrheiten“ verweigert.

Nun ist die kurze Phase der affektiven Wählerbeschimpfung wieder vorbei, das politische Personal zur Besinnung gekommen: Der Wählerwille muss als politischer Auftrag angenommen werden, der sich persönlichen Beurteilungen entzieht. Denn wirklich abbeißen mag die fütternde Hand niemand, sosehr sie manchmal auch zittern mag.