Ein Jahr „Volksentscheid Fahrrad“: „Die Wut ist da!“
Berlins Radler treten selbstbewusster in die Pedale, sagt Azra Vardar vom „Netzwerk Radfreundliches Neukölln“. Der Politik fehle der Wille, für mehr Sicherheit zu sorgen.
taz: Frau Vardar, vor einem Jahr hat die Initiative Volksentscheid Fahrrad in kurzer Zeit 90.000 Unterschriften für eine sicherere Infrastruktur für Radfahrer gesammelt und so das Thema weit oben auf die politische Agenda gesetzt. Spiegelt sich das nach Ihrem Eindruck im Alltag der Radler schon wider?
Azra Vardar: Das Bewusstsein ändert sich bei den Radlern. Wir werden immer mehr, das merkt man auf den Straßen. Wir werden selbstbewusster und treten für unsere Rechte ein. Dass sich die Infrastruktur verbessert hat, merke ich aber leider noch nicht. Da vermisse ich den politischen Willen für echte Verbesserungen, etwa den Wegfall von Parkspuren an Hauptverkehrsstraßen – was international längst Standard ist.
Haben Sie die Empfindung, dass die Politik sich der Bedeutung des Themas bewusst ist?
Der Bezirk Neukölln beschäftigt sich schon damit. Der Fahr-Rat, an dem auch Verbände und Radlobbyisten beteiligt sind, hat sich hier im Bezirk wieder getroffen – erstmals seit 2013.
Neukölln will bis 2021 6 Millionen Euro in die Sicherheit der Radler investieren …
Jahrgang 1979, wohnt und arbeitet in Neukölln und ist seit 2016 aktiv im Netzwerk Fahrradfreundliches Neukölln.
Wir werden die Politik daran messen, was umgesetzt wird. Und nicht alles davon nutzt den Radlern am Ende wirklich. So wird der Hauptteil des Geldes für die Asphaltierung von Nebenrouten ausgegeben. Das führt aber auch dazu, dass Autos dort schneller fahren. Die Sicherheit für Radler wird so nicht erhöht.
Wie könnte man das verbessern?
Wir fordern Qualitätsstandards für diese Nebenrouten, die echte verkehrsberuhigende Maßnahmen vorsehen – nicht nur ein paar Schilder.
Das Netzwerk Fahrradfreundliches Neukölln, bei dem Sie mitarbeiten, gibt es schon seit 2015. Ist der Bezirk besonders gefährlich für Radfahrer?
Vor einem Jahr hat die Initiative Volksentscheid Fahrrad rund 90.000 Unterschriften für mehr Sicherheit im Radverkehr gesammelt. Die rot-rot-grüne Landesregierung hat versprochen, die meisten Forderungen umzusetzen. Doch die Verhandlungen über das Radgesetz verzögern sich. Warum? Und wie muss der Umgang mit den Radlern aussehen, um den Anforderungen der Zukunft gerecht zu werden?
Darüber diskutieren am Donnerstag im taz Café Verkehrssenatorin Regine Günther, Kerstin Stark (Volksentscheid Fahrrad), Volker Krane (ADAC), Matthias Heskamp (Team Radbahn Berlin). Beginn 19 Uhr, Moderation: taz-Berlin-Redaktionsleiter Bert Schulz, der Eintritt ist frei!
Auf jeden Fall. Wir haben die Sonnenallee, die Hermannstraße und die Karl-Marx-Straße. Bei Letzterer entsteht derzeit immerhin ein Radstreifen, wenn auch sehr langsam. Bei den beiden anderen Hauptstraßen fehlt die sichere Infrastruktur komplett. Und selbst wenn alle Autofahrer rücksichtsvoll fahren und sich an die Verkehrsregeln halten würden, wäre es dort immer noch gefährlich für Radler.
Vor zwei Wochen starb ein Radfahrer nach einem Unfall in der Hermannstraße. Ein im Halteverbot parkender Diplomat rammte ihm die Fahrertür entgegen, worauf der Mann stürzte und sich tödlich verletzte. Ist das eine krasse Ausnahme oder gehören solche Gefahrensituationen zum Alltag für Radler?
Solche Situationen sind absolut Alltag. Jeder, der regelmäßig die Hermannstraße und die Sonnenallee entlangfährt, weiß das.
Am Abend nach dem Tod des Mannes versammelten sich mehrere hundert Radler dort, wo der Unfall geschehen war. Die Wut unter den RadfahrerInnen muss groß sein.
Natürlich ist die Wut da. Und wir wollen zeigen, dass wir viele sind. Dass so viele kamen, zeigt aber nicht nur Wut, sondern auch Bestürzung und Traurigkeit, weil viele diese Straßen kennen. Und es jedem hätte passieren können.
Derzeit wird über das Radgesetz verhandelt. Was ist aus Ihrer Sicht das wichtigste Ziel?Es muss zu einer grundlegenden Verkehrswende kommen: Radler müssen den Platz bekommen, den sie brauchen. Das ist der wichtigste Grundgedanke. Der zweite Punkt ist die Sicherheit: Es müssen endlich weniger Unfälle passieren. Menschen aller Altersgruppen müssen sicher Rad fahren können.
Glauben Sie, dass das Gesetz bald kommt?
Ich hoffe es. Auf den konkreten Zeitplan warten wir noch.
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