Sex im Kinderzimmer, nicht rumstehen

SPIELFILM Griechenland, Deutschland und die Arroganz („Ein Atem“, Arte, Freitag, 20.15 Uhr)

Elena zieht nach Deutschland und arbeitet als Kindermädchen für Lotte – bis sie verschwindet Foto: Arte

von Jens Müller

Es ist nicht so leicht, miteinander zu schlafen, wenn im Nebenzimmer der Bruder gerade Sasha-Grey-Pornos auf YouPorn guckt. Aber so ist das, wenn Menschen mit abgeschlossenem Studium noch bei ihren Eltern wohnen. Müssen. Weil sie trotz Studiums in Athen nur schlecht bezahlte Gelegenheitsjobs als Zimmermädchen oder Fremdenführer finden. Die Beinahe-Sex-Szene am Anfang könnte aus „Europe, she loves“ sein, jenem Episodenfilm über vier Paare an den Rändern Europas, deren Beziehungen auch eine Flucht in die Privatheit vor den sozialen und wirtschaftlichen Problemen ihrer Heimatländer sind.

Anders als Kostas will Elena (Chara Mata Giannatou) aber nicht länger flüchten. Auf Griechisch: „Fuck, wir sind in dem Alter, wo was passieren müsste. Aber wir sitzen in deinem Kinderzimmer und tun nichts.“ Elena fährt in das Land, in dem es keine Wirtschafts- und keine Finanzkrise gibt, um in einer Frankfurter Bar zu arbeiten, was sie dann nicht darf, weil sie, wie sie erfährt, schwanger ist. Weil sie aber immer noch Geld verdienen muss, heuert sie bei den Doppelverdienern Tessa (Jördis Triebel) und Jan (Benjamin Sadler) als Kindermädchen an. Und schon könnten die Szenen aus „Sto Spiti“ sein, jenem griechischen Film über eine scheinbar so harmonisch in die wohlhabende Familie integrierte Haushälterin – über als Freundschaft verkleidete paternalistische Arroganz.

Tessa und Jan scheinen auf den ersten Blick ganz locker und entspannt … Tessa: „Elena. Du sollst auf Lotte aufpassen und nicht rumstehen, ja!“ Jan: „Ah, Elena, könntest du heut ’n bisschen länger bleiben?! Dann könntest du in der Küche noch klar Schiff machen. Ja? Danke!“ Den Begriff „Dienstbotin“ führen sie nicht in ihrem Wortschatz. Aber auf die Idee, dass Elena ein eigenes Leben haben könnte, kommen sie nicht. (Die arroganten, reichen Deutschen!?)

Tessa, Jan, ihre Schwangerschaft – Elena hat die kleine Lotta nur einen Augenblick aus den Augen gelassen, aber als sie wieder aus der Bäckerei tritt, ist Lotta weg. Elena haut einfach ab.

Der Film ist nicht „Europe, she loves“ und nicht „Sto Spiti“, sondern: „Ein Atem“. Und an dieser Stelle jetzt kommt Autor und Regisseur Christian Zübert mit einem ziemlich genialen Kniff. Bekannt geworden ist er 2001 mit der Kiffer-Komödie „Lammbock“ – gerade lief die Fortsetzung „Lommbock“ in den Kinos. Dabei scheinen ihm die dramatischen, die relevanten Stoffe viel mehr zu liegen: „KDD – Kriminaldauerdienst“ war die beste deutsche Krimiserie seit „Der Fahnder“, „Nie wieder frei sein“ einer der besten München-„Tatorte“ und „Dreiviertelmond“ ein wunderschöner Märchenfilm über die unwahrscheinliche Freundschaft zwischen einem grantelnden Münchner Taxifahrer und einer sechsjährigen Migrantin. Da kam Züberts Sozialkritik noch versöhnlich daher.

Der geniale Kniff des Films besteht in einem radikalen ­Perspektivwechsel

Sein genialer Kniff besteht nun also in einem radikalen Perspektivwechsel. Er spult ein bisschen zurück. Einen Teil der bisherigen und die weitere Handlung erlebt der Zuschauer nun mit Tessa. Sieht, warum sie so genervt ist. Sieht eine verzweifelt um ihr Kind bangende Mutter, die in der Extremsituation natürlich nur noch neurotischer reagiert: „Sie hat sie mitgenommen! Warum sollte sie sonst abgehauen sein?“ Tessa fliegt allein nach Athen, wo sie Elena vermutet, von der der Zuschauer weiß, dass sie keine Babydiebin ist. Tessa weiß es nicht. Und das Melodram nimmt seinen Lauf.

Jördis Triebel hat sich in den vergangenen rund zehn Jahren als tolle Charakterdarstellerin etabliert. Für Chara Mata Giannatou, die die Enkelin von Harald Leipnitz ist, war „Ein Atem“ der erste Film überhaupt. Es liegt an den beiden (wollte ich schon immer mal verwenden) fulminanten Schauspielerinnen, aber auch am Drehbuch, dass selbst das unlogische Verhalten der Protagonistinnen immer nachvollziehbar bleibt.

Der Film ist packend und berührend. Er lässt ratlos zurück. Weil Zübert den Finger in eine Wunde legt. Es mag aber auch ein bisschen mit seiner Moral zu tun haben, die einem allzu wohlfeil vorkommen könnte. Die bittere Schlusspointe soll nicht gespoilert werden – Fußballfreunde dürften sich an Gary Lineker erinnert fühlen: „Fußball ist ein Spiel, bei dem 22 Spieler hinter einem Ball herjagen und am Ende gewinnt immer Deutschland.“