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Krise der deutschen SchwimmerInnenMehr Muskeln, mehr Medaillen

Vor der nationalen Meisterschaft ist der Ton rau. Chefcoach Lambertz beklagt die schwache Athletik aller und wird selbst heftig kritisiert.

Trainer Lambertz hält auch Marco Koch nicht für einen Medaillenkandidaten in Tokio Foto: dpa

Der nationale Muskel-Check liegt mittlerweile fünf Monate zurück, doch die Ergebnisse bereiten Henning Lambertz noch immer Magenschmerzen. „Seit Jahren – ich hätte fast Jahrzehnten gesagt – stellen wir fest, dass wir im athletischen Bereich nicht so gut aufgestellt sind wie andere Nationen“, berichtet der Chefbundestrainer. Deshalb ordnete er im Januar die große Kraftkontrolle an – und musste erschüttert erkennen: „Unter allen Schwimmern der Nationalmannschaft, die bislang überprüft wurden, gab es nicht einen oder eine, die unsere Orientierungswerte in Gänze erreicht hat.“

Kurz nach den Deutschen Meisterschaften in Berlin, die am Donnerstag beginnen, wird deshalb in Hamburg erneut gemessen. Um das „sehr, sehr schwache athletische Bild“ nach und nach zu verbessern, will Lambertz dieses Feld im aktuellen Olympiazyklus konsequent beackern. „Wer nach fünf Monaten keine Fortschritte gemacht hat, muss sich unangenehme Nachfragen gefallen lassen“, betont der 46-Jährige vor dem nächsten Kontrollgang. Und grundsätzlich warnt er: „Wer nicht den Mut aufbringt, die alten Systeme loszulassen, hat im Moment leider keinen Platz an meiner Seite.“

Der Ton im DSV ist rauer geworden nach der zweiten olympischen Nullnummer in Folge. Auch Marco Koch, 2015 Weltmeister über 200 Meter Brust, schaffte es ein Jahr später in Rio nicht, sich in die Medaillenränge zu schieben. „Die Zügel wurden nach den Spielen schon deutlich angezogen“, bestätigt der 27-jährige Darmstädter, dann ergänzt er schmunzelnd: „Aber bis jetzt noch nicht so schlimm, wie ich befürchtet hatte. Mal sehen, was die Zukunft noch bringt.“

Deutschlands schwimmende Zukunft jedenfalls ist längst noch nicht auf der Höhe. Im Gegenteil. Mit der Einführung eines Perspektivteams wollte Lambertz, seit Januar 2013 im Amt, der internationalen Spitze mittelfristig wieder auf die Pelle rücken. Doch als er vor wenigen Tagen die frischen Zahlen über die Leistungen seiner Schützlinge in die Hände bekam, musste er desillusioniert erkennen: „Kein einziger hat die Norm für die Jugend-Europameisterschaft erfüllt, null. Schon unten entsteht, was wir oben spüren. Das gilt trotz oder aufgrund vieler bisheriger Freiheiten im Nachwuchsbereich.“

Der Zusatzhinweis ist ihm wichtig, denn er musste heftige Seitenhiebe ehemaliger Mitstreiter einstecken. Für Unmut sorgt neben dem Kraftkonzept die gemeinsam mit dem DSV angeschobene Zentralisierung.

„Willige Gesinnungsgehilfen“

So monierte Trainerkollege Frank Embacher, dem an Heiligabend das DSV-Schreiben mit seiner Kündigung ins Haus flatterte, Lambertz suche vor allem willige Gesinnungsgehilfen. Und der nach Rio zurückgetretene Paul Biedermann, am Stützpunkt Halle (Saale) unter Embacher zum Doppelweltmeister 2009 avanciert, warf dem Bundestrainer vor, mit der Abkehr von individuellen Lösungen die vielen kleinen Schwimmvereine auf Dauer trockenzulegen.

Lambertz rechnet wegen der Normen mit nur sechs WM-Qualifikanten

Die 24-jährige WM-Halbfinalistin Vanessa Grimberg etwa verliert zum 1. Juli ihre Anstellung als Sportsoldatin bei der Bundeswehr, weil sie nicht von Stuttgart an den Bundesstützpunkt Heidelberg wechseln will. „Gerade bei älteren Athleten, die leistungsmäßig noch ein bisschen hintenanstehen, hätte man Kompromisse finden können – oder findet sie auch noch“, äußert Marco Koch, betont aber zugleich: „Das verstärkte Krafttraining kann für viele ein Schritt in die richtige Richtung sein. Ich bin von der neuen Maßnahme auf jeden Fall überzeugt.“

Henning Lambertz kontert seine Kritiker: „Wir verändern Inhalte im Training – weil wir bisher Dinge gemacht haben, die uns nicht weitergebracht haben. Außerdem können wir doch nicht immer nur an Ideen anderer rummeckern. Wo sind die Gegenvorschläge?“ Seit der Veröffentlichung des Kraftkonzepts im September 2016 habe er seine Kollegen aufgefordert, ihm wissenschaftliche Nachweise zu schicken, die womöglich gegen den eingeschlagenen Weg sprechen. In dem Fall werde er Veränderungen vornehmen. „Aber ich habe nicht eine einzige E-Mail dazu bekommen.“

Ziele auf 2024 verschoben

Deshalb agiert der DSV nun in erster Linie mit den vier Kernstützpunkten in Hamburg, Essen, Heidelberg und Berlin – inzwischen allesamt besetzt mit Trainern, die der neuen Linie folgen. „Dafür bin ich sehr dankbar“, erklärt Lambertz – der bei seinem Anforderungsprofil für die vier Wettkampftage in Berlin zweigleisig fährt.

Wer von den Etablierten im Juli mit zur WM will, muss im Finale die Zeit des Endlauf-Achten bei den Spielen in Rio vorlegen. Angesichts dieser Hürde rechnet Lambertz mit nur sechs Qualifikanten in der offenen Klasse. Plus zehn bis zwölf Nachwuchsschwimmern, denen der Einstieg ins Nationalteam mit weicheren Normen erleichtert werden soll. Wobei der Bundestrainer von seinem ursprünglichen Plan, die deutschen Pool-Spezialisten bis Olympia 2020 zurück in die Weltspitze zu führen, bereits abrückt.

„Die Frage, ob wir unsere sportlichen Ziele auf 2024 verschieben müssen, muss ich fast bejahen“, gesteht Lambertz. Denn: „Mit welchen Namen sollen wir die Medaillen in drei Jahren gewinnen? Fakt ist, dass wir nach heutigem Stand keinen einzigen Schwimmer als klaren Medaillenkandidaten für Tokio bezeichnen dürfen. Selbst Marco Koch nicht.“

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2 Kommentare

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  • Der Mann wünscht sich die maskulinen Kraftpakete der DDR zurück. Wie lange Schwimmer zB. die Hilfsmittelchen zum Muskelaufbau gesund überleben spielt wohl nicht die Rolle. Lasst dem Mann doch Muskeln mästen aber Geld dafür das sollte er nicht bekommen.

    • @conny loggo:

      Zitat: „Mit der Einführung eines Perspektivteams wollte Lambertz [...] der internationalen Spitze mittelfristig wieder auf die Pelle rücken.“

       

      Überall der selbe Mist! Da hat ein asozialer Ehrgeizling überambitionierte Ziele, die er alleine nicht erreichen kann, und daraus zieht er dann den kühnen Schluss, die, die ihn an die Spitze hieven sollen, müssten entweder Pferde, Esel, Mulis oder Ochsen sein. Wesen, jedenfalls, denen er nur mit der Peitsche drohen, die „Zügel“ straff ziehen oder die Ration kürzen muss, damit sie tun, was immer er von ihnen wünscht.

       

      Wie lange wollen sich die Sportler das denn noch gefallen lassen? Ich meine: Ein „aber bis jetzt [ist es] noch nicht so schlimm, wie ich befürchtet hatte“, ist doch kein Lebensmotto! Wer so herangeht an die ganze Sache, der braucht nicht „sehen, was die Zukunft [...] bringt.“ Der kann es nämlich mit geschlossenen Augen wissen.

       

      Diese „Athleten“ geben wahrlich ein „sehr, sehr schwaches athletisches Bild“ ab meiner Meinung nach. Wäre ich wild darauf, von Treppchen in die Kamera zu lächeln, würde ich den Spieß vermutlich umdrehen. Meinen Trainer würde ich dann anbrüllen: „Wer [...] keine Fortschritte [...]macht [...], muss sich unangenehme Nachfragen gefallen lassen“. Und nachschieben würde ich: „Wer nicht den Mut aufbringt, die alten Systeme loszulassen, hat im Moment leider keinen Platz an meiner Seite.“ Soll sich der Typ doch neue Leute suchen, die besser sind UND sich für ihn zum Teufel schinden lassen!

       

      Nun. Damals, in jenem miefig-engen Land, das sich alle paar Jahre beweisen musste, dass es dem großen Bruder bis zum Nabel reicht, war die Einigkeit von Trainer und Sportlern nicht gerade klein. Noch heute leiden vor allem Schwimmerinnen an der Athletik, die sie dem „Fortschritt" zu verdanken hatten. Sieht aus, als wollte Chefbundestrainer Lambertz (geb. 1970 in NRW) von der verreckten DDR posthum das Siegen lernen. Geschichtsbewusstsein? Scheint nicht erforderlich zu sein für die Karriere.