Der Ukraine zuhören

Pop Ethno Chaos aus Kiew: Das Quartett DakhaBrakha zu Gast im Festsaal Kreuzberg

Am Dienstagabend konnte man zwischen Puschkinallee und Spree Zeuge einer auf Popkonzerten eher selteneren Geste werden; der nämlich, dass am Ende der Veranstaltung eine Staatsflagge entrollt wurde. Aber der Reihe nach. Das Kiewer Quartett DakhaBrakha hatte in den Festsaal Kreuzberg eingeladen und eröffnete seinen Auftritt mit hektisch-ritualistischen Trommelattacken und spitz-sonorem Wechselgesang. Das dauerte höchstens zwei Minuten und sollte der kürzeste Song des Abends werden.

Danach begrüßte Sänger Mark Halanevych das Publikum mit den Worten: „Guten Abend, dobryj wetschir, wir sind Da­khaBrakha aus der freien Ukraine.“ Neben ihm saßen auf der Bühne die Sängerinnen Iryna Kovalenko, Olena Tsibulska und Nina Garenetska. Alle vier in einer Reihe, keiner sollte sich in den Vordergrund drängen; jede Frau und jeder Mann ist ein vielfarbiger Stern: Halanevych trug ein schwarzes Langhemd mit roten und weißen Applikationen; bärtig, aber barhäuptig ging er in den Abend.

Kovalenko, Tsibulska und Garenetska taten es ihm farblich ähnlich, dafür jedoch bestritten sie den ganzen Abend unter ausladenden schwarzen Papachas, einer Art kaukasischer Fellmütze, die auch bei russisch-ukrainischen Kosaken gebräuchlich, allerdings eher Männern und Jungen vorbehalten ist. Auch das ist eine Geste.

Die Musik war da längst in einen meditativen Modus mit Überraschungsmomenten übergegangen. Die Songs von DakhaBrakha beginnen zumeist mit einem einfachen, ja zarten Motiv, über das die Musiker Schicht für Schicht legen und eine einnehmende Dramatik entstehen lassen. Oder aber sie durchkreuzen die Ruhe mit einem jähen Schnitt. Halanevych, Kovalenko, Tsibulska und Garenetska sind Multiinstrumentalisten. Und so konnte man auf ihrem Konzert ein geschätztes halbes Dutzend Perkussionsinstrumente vernehmen, vom Schlagzeug über die Handtrommel bis zur Rassel. Dazu Akkordeon, Piano und Cello.

DakhaBrakha, zu Deutsch „GebenNehmen“, nennen ihre Musik „Ethno Chaos“. Begonnen hat das Quartett 2004 als Hausband des Kiewer DAKH-Theaters unter der Leitung seines Direktors Vladyslav Troitskyi. Mehrere Bühnenmusiken sind dabei entstanden, darunter gleich drei Shakespeare-Adaptionen: „King Lear“, „Macbeth“ und „Richard III.“ Im Herbst vorigen Jahres haben Dakha­Brakha den sowjetischen Stummfilm „Die Erde“ (1930) von Oleksandr Dowschenko mit einem Livesoundtrack aufgeführt. Vier Alben sind bis jetzt erschienen, hinzu kommt eine Platte mit dem weißrussischen Jazztrio Port Mone (das man übrigens gerne einmal in Berlin spielen hören würde).

„Stop Putin“

Nach Berlin gebracht hatten DakhaBrakha die Songs ihrer aktuellen CD „The Road“. Zehn Titel sind auf ihr zu hören, und sie wurden quer durch die Ukraine gesammelt. Einer davon ist „Salğır Boyu“, ein tatarisches Liebeslied, notiert auf der Krim. Sie spielten es am Dienstag. Und so kam es, dass in dieser Woche einmal nicht über die Ukraine geredet wurde, sondern man ihr zuzuhören hatte. Dann entrollte Mark Halanevych die blau-gelbe Flagge. Er verbeugte sich und sagte noch: „Peace and Love. Stop Putin.“

Auf dem Rückweg hätte man das Sowjetische Ehrenmal im Treptower Park besuchen sollen. Auch es ist ein multiethnisches. In der S-Bahn dann die Nachrichtenmeldung von Ende Mai, dass in diesem Jahr in der Ostukraine noch kein Tag ohne Schüsse vergangen sei. Und der Gedanke an die eine Konzertbesucherin des Abends, die ein T-Shirt des Moskau-Pariser Designers Gosha Rubchinskiy trug. „Russische Renaissance“ war darauf zu lesen gewesen.

Robert Mießner