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Malene Gürgen über eine notenfreie SchulzeitC für Catastrophe

Foto: Zeichnung: dieKleinert

An meiner Schule, einer Waldorfschule, gab es keine Noten. Freunde von anderen Schulen kriegten immer große Augen, wenn ich das erzählte: Niemals eine Fünf mit nach Hause bringen müssen! Das war der erste Gedanke. Der zweite: Schule muss besser sein ohne diese Zahlen, die Objektivität und Vergleichbarkeit suggerieren, wo die Unterschiede zwischen SchülerInnen doch viel größer sind, als fünf Ziffern sie abbilden könnten.

Finde ich theoretisch auch. Nur: Spätestens in der achten, neunten Klasse wurde bei uns der Ruf nach Noten laut. Und zwar nicht aus der Eltern- oder Lehrerschaft, sondern von SchülerInnen. Zum Teil wohl aus problematischen Gründen: einem verinnerlichten Leistungsdruck, dem Glauben, sich unbedingt vergleichen können zu müssen, überhaupt der Angst, nicht gut genug auf die – benoteten – Abschlussarbeiten vorbereitet zu werden, die auch wir ja am Ende unserer Schullaufbahn schreiben sollten. Neoliberalismus macht eben auch vor Schülerköpfen nicht halt.

In dem Wunsch nach Noten wurde aber auch eine Kritik an ihren Alternativen deutlich. Die gab es bei uns in zwei Formen: am Ende des Schuljahrs als schriftliches Zeugnis, in dem ausführlich auf die Stärken und Schwächen der Schülerin eingegangen wurde, und zwar – Waldorfschule – so „ganzheitlich“ wie möglich. Das ist einerseits schön, weil die Lehrer so viel stärker auf den individuellen Menschen eingehen können, als es Noten ermöglichen. Andererseits kann es aber gerade für einen jungen Menschen auch ganz schön anstrengend sein, jedes Jahr so eine mit Lehrerautorität versehene Rundumbeurteilung seiner Persönlichkeit schwarz auf weiß serviert zu bekommen.

Weil man nicht unter jede Klassenarbeit – ja, die gibt es auch an Waldorfschulen – ellenlange Beurteilungen schreiben kann, gab es außerdem noch eine große Bandbreite von prägnanteren Bewertungsskalen, je nach Lehrer unterschiedlich: Manche arbeiteten mit kurzen Sätzen, manche mit „sehr gut“ bis „ungenügend“, andere mit Punkten oder Smileys. Das war natürlich großenteils Augenwischerei: Welcher Code in etwa welcher Note entsprach, war schließlich nicht schwer herauszufinden. Und dass das C für Catastrophe, das unsre Fran­zö­sisch­lehrerin für besonders schlechte Arbeiten vergab, leichter zu verdauen war als eine schlichte Fünf, darf auch bezweifelt werden.

Ab acht Uhr morgens im 45-Minuten-Takt eine sehr spezielle Auswahl von Wissen in Menschen reinpressen und am Ende allen eine Zahl aufstempeln: Schule kann ein ganz schön fieses Konzept sein. Versuche, daran etwas zu ändern, sind gut, und dazu gehört auch der Vorschlag einer Schule ohne Noten. Trotzdem: SchülerInnen so zu beurteilen, dass es ihnen weiterhilft, statt sie kleinzumachen – das geht mit Zahlen wie mit Worten.

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