: Mehr Tal als Berg
Genuss-Radtour Von der Sonne verwöhnt, von der Etsch durchflossen, von Bergen umhegt: Im Südtiroler Vinschgau ist alles für den entspannten Berg-und-Tal-Radurlaub vorhanden – samt essbaren Marmorwürfeln
Von Judith Weibrecht
Der Weg nach oben wird kein leichter sein? Ach was. Wir lassen uns und die Räder einfach raufbringen. Variante eins: Von Glurns, der einzigen Stadt im Südtiroler Vinschgau, mit dem Postbus hinauf nach Tschierv in die Schweiz. Das Rad hängt hinten am Bus. Grüezi, Engadin. Durchs Münstertal fahren wir zum Kloster St. Johann im Val Müstair, gegründet von Karl dem Großen, heute Unesco-Welterbe und berühmt für die mittelalterlichen Wandmalereien in der Kirche. Im Grenzdorf Müstair, dem östlichsten Ort der Schweiz, spricht man Rätoromanisch und Deutsch.
Der Vinschgau, ein 75 Kilometer langes Tal zwischen Reschenpass und Meran. Und hier weitet es sich. Über die schweizerisch-italienische Grenze radeln wir zwischen grünen Wiesen und Apfelbäumen, Weinstöcke an sonnigen Hängen. Paradiesisch, was das Land alles hergibt. Doch dazu war viel Arbeit nötig, denn von jeher hatten die Bauern im niederschlagsärmsten Tal der Alpen mit Wassermangel zu kämpfen. Zur Bewässerung erbaute man die Waale, Wasserkanäle, die das Wasser aus höheren Lagen hinableiten zu den Feldern.
Schon von Weitem ist in der Jennwand bei Laas ein Schnitt zu erkennen. Dort fährt ab dem Marmorbruch ein Waggon hinüber zur Schrägbahn. Fast alles ist in Laas aus dem weiß blitzenden Stein: Gehsteige und Dorfplatz sind damit gepflastert, auf dem Friedhof findet man marmorne Kunstwerke. Der Laaser Marmor ist frostfest und weltweit begehrt: Die New Yorker U-Bahn-Station am Ground Zero wurde damit gebaut. Hier kann man Marmorwürfel auch essen, und zwar in der Konditorei Greta. Apfelsaft gibt’s an einem Stand am Radwegrand: 50 Cent in die Kasse einwerfen, fertig.
Die zweite Bequemvariante bergauf bietet der Bike-Shuttlebus zum Reschensee, an dem die glatt asphaltierte Radroute entlangführt. Zur Linken ragt der romanische Kirchturm von Graun aus dem klaren Wasser und zeugt von der Stauung des Sees 1950 und dem Leid der ehemaligen Bewohner, die ihre Lebensgrundlage verloren. Am Haidersee locken hölzerne Vogelbeobachtungsposten, vom Sattel zu steigen. Enten schnattern, Angler halten ihre Rute in die türkisfarbene Etsch.
In Burgeis findet man kunstvoll mit Fresken und Bändern bemalte Häuser. Letztere sollen das Böse abhalten. Über allem thront das Kloster Marienberg. „Da treiben sich heutzutage Aussteiger aus Deutschland als Mönche herum“, meint der Busfahrer zu wissen. „Und links neben dem Radweg steht die Fürstenburg, einst Sitz der Fürstbischöfe von Chur, heute Fachschule für Land- und Forstwirtschaft.“ Und dann endlich eine Etappe im Sausewind: Bis zu 20 Prozent Gefälle!
Im nächsten Dorf, in Laatsch, sollte man sich in der Bäckerei Schuster ein Palabirnenbrot gönnen. Die Pala- oder Sommerapothekerbirne hat ein intensives Aroma und schmeckt süßlich. Und noch ein Brot ist eine Vinschger Spezialität: Das Urpaarl war das erste Südtiroler Produkt, das mit dem Slowfood-Siegel ausgezeichnet wurde. Nur von Vinschger Äckern darf der Roggen stammen, aus dem es in seiner eigentümlichen Form gebacken wird: zwei zusammenhängende, flache Laibe. Bei Hochzeiten tischte man sie als Symbol für die Zusammenhörigkeit der Brautleute auf.
Im mittelalterlichen, von einer Stadtmauer umgebenen Glurns gibt’s das beste Eis, dazu Kuchen und „Turt“ (Torte) bei der Konditorei Riedl, meint ein Radlfreund. Die weiß gekalkte Laubengasse war einst der Ort, wo Händler auf den Bänken unter den Arkaden Waren anboten. Auf dem Stadtplatz treffen sich heute Radfahrer auf der Bank unter ausladenden Baumriesen. Seine Flasche kann man mit frischem Quellwasser aus dem Brunnen auffüllen.
Bis zur Nachbargemeinde Prad sind es nur ein paar Kilometer. Sonntag früh, die Glocken läuten. Fesche Damen im Dirndl gehen zur Kirche. Am Radweg zwitschern die Vögel und quaken die Frösche, Bergsalamander verharren wie erstarrt. Oben das Blau und der Schnee, unten Grün und Sonne. Im Schatten der Tschenglser Hochwand jedoch scheint sie jedes Jahr monatelang nicht. Sommers gehen die Vinschger gern auf den Nörderberg, denn dort ist es angenehm kühl, im Winter spaziert man auf der gegenüberliegenden Sonnenseite des Lebens, dem Sonnenberg.
Wer eine Vinschgauer Radtour plant, sollte die Zeit von März bis November wählen. Und wer dann auch noch nach Naturns kommt, wird sicherlich Prokulus besuchen. Der ist auf einem Fresko in der gleichnamigen Kirche zu bestaunen. Er hockt entspannt auf einer Schaukel und scheint zu lächeln. Ja, das passt. Als eine Genusstour mitten in den Bergen, als Bergtour light – so lässt sich der Vinschgau ganz relaxed erfahren und erleben.
Anreise: Eurocity ab München bis Bozen mit Fahrradmitnahme, weiter in der Südtiroler Bahn bis Meran, dann mit der Vinschger Bahn. Oder mit der Bahn bis Landeck und mit dem Bus weiter bis zum Reschenpass
www.vinschgau.net
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