Mit der Magie von Stammesmusik

Konzert Geheimtipp der Indietronica-Szene, von sardischen Gesängen inspiriert: Jacopo Incani alias Iosonouncane in der Kantine am Berghain

„Wunderbare Eindrücke“ habe der Musiker Jacopo Incani bei seinem ersten Besuch in Berlin vergangenes Jahr mit zurück nach Italien genommen. Mit seinem Projekt Iosonouncane kam Incani 2016 im Rahmen der Release-Tour zu seinem zweiten Album solo in die deutsche Hauptstadt und spielte im ausverkauftem Acud vor allem vor der italienischen Gemeinde Berlins. In Italien brachte ihm die Veröffentlichung des Konzeptalbums namens „Die“ eine große mediale Aufmerksamkeit, die noch immer anhält.

Auch die Kantine am Berghain ist am Mittwochabend proppevoll, aber das Publikum spricht nicht nur Italienisch. Die Musik des 1983 in Sardinien geborenen Musikers hat sich zum Geheimtipp der Indietronica-Szene gemausert. Incani präsentiert die Musik seiner zwei Iosonouncane-Alben erstmals mit voller Bandbesetzung und wird nach seinem Berliner Auftritt noch in Paris, London und Barcelona spielen.

Die Musik von „Die“ vereint traditionelle sardische Musikelemente mit moderner Musik. Incani mischt den besonders im zentralen Sardinien bekannten „Cantu a tenore“-Gesang mit elektronischer Musik, Akustikgitarre und einem Hauch Psychedelic. Auch der Titel des Albums ist ein Wink an seine Heimat: „Die“ steht im Sardischen für „der Tag“.

Wie ein tiefes Om

Bevor Incani mit seinen vier Mitmusikern die Bühne betritt, laufen zur Einstimmung sardisch anmutende Gesänge. Im fast ohne Pausen durchgespielten Set wird Incani die vibrierenden, einem tiefen Om in der Meditation gleichenden Bassstimmen sampeln und in die Stücke einfließen lassen.

Die Wahl der ungewöhnlichen Elemente in seiner Musik, die auf der Bühne auch Kuhglocken beinhalten, hat für Incani aber keine patriotischen Hintergründe. Auch wenn Sardinien eine autonome Region Italiens ist und Sardisch eine anerkannte Minderheitensprache, verwirft Incani das Konzept von Nation, welches manche Sarden mit dem Fordern nach Unabhängigkeit verbinden. Der Musiker interessiert sich eher für den historischen Aspekt des Patriotismus. Seit mehreren Jahren wohnt er zudem in Bologna und ist dort ein wichtiger Teil der Musikszene.

Seine Sprache auf „Die“ ist poetisch und beschreibt auf Italienisch die Gedanken einer Frau und eines Mannes, die am Meer über das Leben und dessen Sinn sinnieren. Incani arbeitet in der Musikunterlegung viel mit Sounds und Trommeln. Sein Album wollte er nach einem Orchester klingen lassen.

Auch live bekommt man durch die viele Lagen an Sounds das Gefühl, vor mehr als nur fünf Musikern zu stehen. Die Kollegen, die mit Incani auf der Bühne stehen, schaffen es, die Klangschichten so überein­ander­zulagern, dass eine hypnotische Atmosphäre erzeugt wird. Dabei wechseln sie elegant zwischen Keyboard und Rhythmusinstrumenten. Die tiefen Trommeln geben oft den Takt an und erinnern in den langen instrumentalen Phasen an die Magie von Stammesmusik. Die Musiker befinden sich in der Kantine in einer Art Trance.

Theatralisches Dada

Auch Sänger und Frontmann Incani ist in seiner ganz eigenen Rolle. Als er das Publikum nach einer guten halben Stunde Musik mit „zitti!“ auffordert, ruhig zu sein, geht er über in einen italienischen Monolog. Mit der theatralen Betonung und den vorgetragenen Dada-Inhalten amüsiert Incani die Zuschauer. Man versteht, dass nicht nur seine Alben, sondern auch seine Auftritte einem Konzept folgen. Der Musiker sieht seine Bühnenpräsentation selbst als “eine lange Suite“ und er hält nicht viel vom bloßen Rezitieren von Songs.

Iosonouncane präsentieren am Abend in zusammenhängenden Klangwelten fast das ganze aktuelle Album, und Incani spielt nur ein einziges Mal ohne Bandbegleitung: Nach der ersten Unterbrechung des Sets wechselt Incani an seine Akustikgitarre und spielt „Il corpo del reato“, ein Lied seines ersten Albums, an. Sonst – ähnlich dem Theater – ständig in seiner Rolle, verliert sich Incani hier kurz durch die sich immer wieder verstimmende Gitarre. Irgendwann reicht es ihm, und er unterbricht das Stück – doch das Publikum kann nicht genug bekommen, schreit „bravissimo!“, und die Verwirrung des Musikers ist schon verflogen.

Als krönender Abschluss folgt das im Ohr bleibende „Stormi“ des „Die“-Albums. Im langen Outro des Songs sampelt Incani zuletzt die hypnotischen „Cantu a tenore“-Stimmen, die am Ende ohne Band auf der Bühne aus den Boxen kommen und allen Jubel aus dem Publikum übertönen. Das Konzert endet, wie es angefangen hat: Die brummenden Bässe der Männerstimmen vibrieren im Körper, und man ahnt schon, dass Incani sein Konzept nicht für eine Zugabe aufgeben wird – auch wenn man es sich sehr wünschte.

Lorina Speder