Tanz ohne May

UK-Wahlkampf Durch Theresa Mays Abwesenheit bei der BBC-Debatte steigt ihr Gegner Jeremy Corbyn weiter zur Heldenfigur auf

War nicht in Cambridge: Theresa May Foto: Leon Neal/reuters

aus Cambridge Dominic Johnson

Als die junge Bengalin mit rotem Lippenstift und geblümtem blauem Kopftuch hinten am Zaun ein Megafon hervorkramt und in der gleißenden Abendsonne ein Weihnachtslied anstimmt, gucken die Demonstranten erst irritiert, dann fangen sie an zu lachen. Zur Melodie des Chorals „O Come All Ye Faithful“ brüllt sie eine selbstgedichtete Aufforderung an Theresa May in den Verstärker, „Gesicht zu zeigen“. Beim zweiten Mal singen viele mit. Die britische Premierministerin kommt nämlich nicht zur wichtigsten TV-Debatte des Wahlkampfes an diesem Mittwochabend.

Die BBC hat die britischen Parteichefs in den Festsaal vom Senate House geladen, mitten ins Herz des mittelalterlichen Universitätsviertels von Cambridge, Standort der besten Uni der Welt. Dass May nicht kommt, war von Anfang an klar. Bis Mittwochmittag galt die ­Ansage, dass dann auch Oppositionsführer Jeremy Corbyn nicht erscheine. Dann machte der Labour-Chef plötzlich eine Kehrtwende: Er geht nach Cambridge, May soll es ihm gleichtun, sagt er. Das tut sie natürlich nicht, sie lässt sich von ihrer Innenministerin vertreten. Taktischer Sieg für Corbyn, der sonst als leicht verwirrter Zauderer daherkommt.

Dies sind keine normalen Zeiten in Großbritannien. Eigentlich galt Mays haushoher Sieg bei den vorgezogenen Neuwahlen am 8. Juni als sicher. Aber plötzlich geht Wechselstimmung durch das Land. Den gigantischen Rückstand auf Mays regierende Konservative hat Labour fast aufgeholt. Ein Debakel für May scheint möglich. „Let June Be The End Of May“ lautet der neueste linke Kampfspruch – ein Wortspiel auf die Premierministerin und den Monat Mai.

Cambridge ist eine progressive Stadt im konservativen Gewand. Hinter den alten Gemäuern wird radikal gedacht, in den Buchläden liegt der neue Varoufakis stapelweise aus. Im lokalen Wahlkampf wetteifern Labour und Liberaldemokraten um die linken Stammtische. Wachsende Armut, Geldmangel im Bildungs- und Gesundheitswesen, die sichtbar gestiegene Obdachlosigkeit, aber auch die Sorge um den Forschungsstandort Cambridge in Brexit-Zeiten – das sind die Themen.

Für viele Jungwähler ist der 68-jährige Corbyn ein Hoffnungsträger, der die Dinge beim Namen nennt, während May sie verschleiert. Vor Beginn der TV-Debatte füllen ausgelassene Demonstranten den Platz und die Straßen am Senate House. Eine lang angekündigte Pro-EU-Demo verschmilzt mit herbeiströmenden Corbyn-Fans, blaue EU-Fahnen wehen neben roten Labour-Schildern. Manche tragen kleine bunte Corbyn-Bilder, ähnlich wie katholische Marienbilder, mit der Aufschrift „Hope“. Man skandiert Sprüche gegen Studiengebühren und für die Aufnahme von Geflüchteten. Reggaemusik weht durch den Sommerabend.

Über das Soundsystem ertönt der aktuelle Renner der britischen Charts: „Liar Liar“ von Captain Ska, erst wenige Tage alt, aber alle hier können schon mitsingen. Das Protestlied schneidet Ausschnitte aus Mays Reden gegen den Refrain „She’‘s a liar liar; she¦s a liar liar; you can’t trust her, no no no no“ ab. Die Menge singt und tanzt. Es herrscht Karnevalsstimmung, auch die Polizisten sind locker.

Endlich kommt der Autokonvoi mit dem Helden des Tages. Corbyn steigt aus, dunkler Anzug, rote Krawatte, weißer Bart, ein gespielt ungläubiges Grinsen: So viele Leute, nur für mich? Er steht, er strahlt, er winkt, Daumen hoch, die Menge tobt, dann wird er hinter das gusseiserne Tor von Senate House bugsiert.

„So ein schöner Mann“, seufzt eine ältere Dame an der Absperrung und dreht sich zum Gehen. „Das reicht. Ich wollte bloß ihn sehen.“ Aber die meisten warten, bis Corbyn herauskommt. Die TV-Debatte? Die interessiert niemanden.