Autobiografisch Der Blick der Skeptikerin auf die Wirklichkeit: Rachel Cusks „Transit“
: Wenn die Identität zum Kerker wird

Die britische Presse griff sie brutal an, als sie über ihre Scheidung schrieb: Rachel Cusk Foto: Patrice Normand/Opale/Leemage/laif

von Carola Ebeling

Faye hat eine Entscheidung getroffen, nämlich das runtergekommene Haus in London zu kaufen, jetzt steht sie im Chaos, sie erzählt einem Bekannten davon: „Wohin man auch blicke, sei nichts zu sehen als Gerippe, die Gerippe von Wänden und Böden, so dass das ganze Haus mir schutzlos erschien und durchlässig; als könnte alles, was sonst von den Mauern abgewehrt wurde, ungehindert eindringen.“ Es ist ein vielsagendes Bild, denn man kann es als Spiegelung der Gefühle der Protagonistin lesen, von denen sonst wenig die Rede ist. Und es fasst zugleich ein zentrales Thema der 49-jährigen britischen Autorin Rachel Cusk, der es um die Fragilität sichtbarer Lebenswirklichkeiten geht; um das, was zum Vorschein kommt, wenn deren Konstruktionen in sich zusammenfallen.

„Transit“ ist der zweite Teil einer Romantrilogie. Man kann das Buch gut für sich lesen, aber man sieht darin mehr, wenn man seinen Vorgänger „Outline“, im vergangenen Jahr unter dem Originaltitel bei Suhrkamp erschienen, und dessen Hintergründe kennt. Denn Cusk setzt in „Transit“ ein Experiment fort, das sie mit dem ersten Teil begonnen hat.

Die Autorin glaubt nicht mehr an das „klassische“ Erzählen fiktionaler Geschichten, die behauptenden Setzungen, die ihrer Ansicht nach damit verbunden sind. Das autobiografische Schreiben aber wurde ihr durch die vielen vernichtenden, persönlichen Angriffe der britischen Presse verleidet, die sie nach ihrem 2012 erschienenen Buch „Aftermath: On Marriage and Separation“ erfuhr. Darin hatte sie offen von ihrer Scheidung erzählt, von dem Kriegsschauplatz, in den sich ihre Familie verwandelte. Und auch die gesellschaftlichen Urteile, denen sich geschiedene Frauen oft ausgesetzt sehen, thematisiert. Die brutalen Reaktionen haben sie zum Verstummen gebracht und in eine Schreibkrise gestürzt. Nach drei Jahren gelang ihr mit „Outline“ deren Auflösung.

Schon hier war Faye die Ich-Erzählerin: Schriftstellerin, frisch geschieden, zwei Söhne – und damit der Autorin nicht unähnlich. Ihre bis vor Kurzem gültige Identität ist zertrümmert, die Leerstelle noch nicht neu gefüllt. Obwohl sie im Zentrum von „Outline“ steht, bleibt sie die am wenigsten fassbare Figur, werden ihre Umrisse nur an den Rändern der vielen Gespräche sichtbar, die sie führt und die meist in indirekter Rede wiedergegeben werden. Sie ist Zuhörerin, befördert durch ihre Zurückhaltung einen Bekenntnisfluss beim Gegenüber und wird selbst nur in den Reaktionen auf das Gehörte kenntlich.

Wie wirkmächtig ist die Selbsttäuschung? Was lässt sich als Wahrheit über ein Leben sagen?

Cusk entzieht so ihre Figur bzw. sich selbst eindeutigen Zuschreibungen. Das Autobiografische ist präsent und verbirgt sich zugleich, indem es sich vielfach gebrochen in den Geschichten der anderen spiegelt. Eine Strategie, sich „aus dem Käfig der Identifizierung“, wie Cusk es formulierte, herauszuschreiben.

Dieses Erzählverfahren führt sie in „Transit“ weiter. Faye bleibt eine Sammlerin fremder Lebensgeschichten: „Beim Zuhören, sagte ich, habe ich mehr dazugelernt, als ich je für möglich gehalten hätte. ‚Aber du musst auch leben‘, sagte Lawrence.“ Wie das aber geht, ist der Punkt.

Noch radikaler als in „Outline“ stellt Cusk Gewissheiten über gewählte Lebensentwürfe als Konstruktionen in Frage, denen aber Wahrheit zugesprochen wird. Lange halten die meisten Menschen, mit denen sie spricht, daran fest, denn ihre Selbstbilder, ihre Identität hängen davon ab.

Fayes Erfahrung ist „das drängende Gefühl einer Wirklichkeit knapp hinter der sichtbaren Oberfläche aller Dinge, und die Wahrheit über diese andere Wirklichkeit erschien mir wie ein Geheimnis, das ich unbedingt hüten musste“. Diese „andere Wirklichkeit“ aber brach sich Bahn in einem Gewaltausbruch des älteren Sohnes gegenüber dem Bruder, für Faye im Nachhinein der Moment, in dem ihre Ehe zu Ende ging – deren Rissen und schwelenden Konflikten sie zuvor ausweichen wollte. Es gibt viele bildstarke Szenen, in denen eine latente Spannung steckt, die von den Beteiligten mehr oder weniger offensiv ignoriert wird – und die sich dann in eruptiver, gewaltvoller Weise entlädt, ein Schockmoment, der zugleich folgerichtig erscheint.

Was an unserem Leben ist frei gestaltet, was „vorherbestimmt“? Was macht eine Identität aus, wann wird diese zu einem Kerker? Welche Möglichkeiten der Veränderung gibt es dann? Wie wirkmächtig ist die Selbsttäuschung? Was lässt sich als Wahrheit über ein Leben ­sagen?

In „Transit“ verwebt Cusk all diese Fragen vielfach miteinander, sowohl auf der Handlungsebene wie auch auf einer Metaebene, wenn sie etwa bei einer Lesung zwei Autoren als Prototypen autobiografischen Erzählens vorstellt.

Cusk ist eine große, aber keine kühle Skeptikerin. Und sie ist eine originäre und geradezu philosophische Schriftstellerin.

Rachel Cusk: „Transit“. Aus dem Englischen von Eva Bonné. Suhrkamp, Berlin 2017. 238 Seiten, 20 Euro