Auf den Kanzler kommt es an

Mit der Vertrauensfrage hat Gerhard Schröder uns nicht nur ein Fünf-Parteien-Parlament beschert, sondern auch gezeigt, wie unter diesen Bedingungen regiert werden kann

Schröders Auftrumpfen müsste eher den damaligen Abweichlern in den eigenen Reihen gelten

Als das Bundesverfassungsgericht mit seiner Entscheidung vom 25. August den Weg zu Neuwahlen frei machte, fand es für die Art und Weise, wie Bundeskanzler Gerhard Schröder Neuwahlen erzwungen hat, den anschmiegsamen Begriff der „auflösungsgerichteten Vertrauensfrage“. Mit dieser in sich widersprüchlichen Formulierung hat Karlsruhe dem Kanzler eine Waffe an die Hand gegeben, deren Anblick allein schon reichen sollte, um den eigenen Parlamentariern unbotmäßiges Opponieren auszutreiben.

Prompt setzte im Bundestag das Lamento ein, Deutschland sei damit auf dem Weg zur Kanzlerdemokratie, und man verabredete, in der kommenden Legislaturperiode dem Bundeskanzler diese Waffe wieder aus der Hand zu schlagen. Das Parlament wollte sich stattdessen ein Recht auf Selbstauflösung zugestehen. Daraus wird wohl nichts mehr werden. Denn mittlerweile ist klar, für welches Einsatzgebiet diese Waffe perfekt zugeschnitten ist – oder eher künftig unverzichtbar sein wird. Konnten sich all jene, denen das ganze Verfahren wie auch das Urteil der Verfassungsrichter nicht behagten, noch damit beruhigen, dass dergleichen nur alle Jahrzehnte virulent wird, so erscheint es in einem ganz anderen Licht, seit der Souverän sich am 18. September für ein Parlament mit fünf Parteien entschied. Seitdem zeigen diese erkennbar Schwierigkeiten, aus dem Wählervotum einen Regierungsauftrag zu filtern. Nur so viel ist klar, die „Politik aus einem Guss“, die sich Angela Merkel von einer schwarz-gelben Koalition versprach, wird es ebenso wenig geben wie die Fortführung des ebenso gusseisernen rot-grünen Projektes.

Alles, was seit dem Wahlsonntag an Koalitionen erwogen und verworfen wird, muss divergierende, bisweilen entgegengesetzt wirkende Kräfte bündeln. Mit den möglichen Konstellationen wachsen die inneren Spannungen des Parteiengefüges. Die augenblickliche Schwierigkeit, ein regierungsfähiges Bündnis zu finden, gibt einen Vorgeschmack auf die innere Zerrissenheit, die diese Regierung in den kommenden Jahren womöglich haben wird.

Man sollte dem Bundeskanzler nicht zu viel Weitsicht unterstellen, doch mit seinem Weg zu Neuwahlen hat Gerhard Schröder ein verfassungsrechtliches Instrument geschärft, das für die Problemlagen wie geschaffen ist, die durch diese Neuwahlen erst herbeigeführt wurden. Das kann man getrost eine Klugheit der Geschichte nennen.

Die Vertrauensfrage sichert die exekutive Handlungsfähigkeit auch bei dünnen Mehrheiten. Sie diszipliniert die Abgeordneten, denn wer dem Kanzler das Misstrauen ausspricht, riskiert die Auflösung des Parlaments. Auch nach einem Entzug des Vertrauens bleibt der Kanzler oder die Kanzlerin im Amt. Er oder sie kann dem Bundespräsidenten Neuwahlen vorschlagen, wie es bereits dreimal geschehen ist. Die Kanzlerin, und diese Variante wird künftig vielleicht eine größere Rolle spielen, kann sich eine andere Mehrheit suchen. Ja, der Kanzler kann sogar für eine begrenzte Zeit ohne Zustimmung des Bundestages mit Unterstützung des Bundespräsidenten und des Bundesrates weiter regieren. Alle Konstellationen, die derzeit im politischen Berlin sondiert werden, sei es eine große oder eine Ampelkoalition, sei es ein Minderheitskabinett oder ein Tolerierungsmodell, sind im Rahmen der Verfassung realisierbar, ihre Stabilität und Dauerhaftigkeit ist eher eine Frage des politischen Geschicks.

Wer da von Weimarer Verhältnissen redet, liegt falsch, denn gerade aufgrund der Weimarer Erfahrungen war den Autoren des Grundgesetzes an einer starken Exekutive gelegen (die allerdings auch nicht von präsidialen Gnaden abhängig sein sollte). Deshalb kann das Parlament der Regierung auch nur dann das Vertrauen von sich aus entziehen, wenn es zugleich eine andere Konstellation mit einer Mehrheit versieht. Die verfassungsrechtlich starke Stellung der Exekutive ist geradezu Bedingung dafür, dass die verschiedenen Varianten der Mehrheitsfindung auch funktionieren können. Mit dieser Systematik würde ein Selbstauflösungsrecht des Parlaments brechen. Denn in welcher Situation könnte ein solches Recht zum Tragen kommen, die nicht durch die Regierung bestimmt ist? Keiner Konstellation, die demnächst die Regierung stellt, dürfte an einer solchen Verfassungsänderung gelegen sein.

Gerhard Schröder hat die Wahl vom 18. September herbeigeführt, weil er sich angesichts der Absetzbewegungen in der eigenen Fraktion ein neues Mandat vom Souverän holen wollte. Sich auf diese Weise vom Wähler bestätigen zu lassen, hat das Bundesverfassungsgericht bereits Helmut Kohl zugestanden. Deshalb ist es schlüssig, dass Gerhard Schröder sich am Wahlabend als Sieger empfand, fand er doch beim Volk ein weit höheres Maß an Zuspruch, als ihm dessen Vertreter noch im späten Frühjahr spendeten. Nur hatte die bärbeißige Präpotenz, mit der er am Wahlabend auf diesen relativen Erfolg verwies um Angela Merkel die Anwartschaft auf das Kanzleramt streitig zu machen, den falschen Adressaten. Schröders Auftrumpfen müsste eigentlich eher den damaligen Abweichlern und Wankelmütigen in den eigenen Reihen gelten. Denn deren Haltung wurde durch das Wählervotum konterkariert.

Der damalige Weg zu Neuwahlen hat womöglich auch Nachwirkungen auf die Art und Weise, wie nun ein neuer Kanzler gefunden wird. Sollte zwischen den Parteien vorher keine Klarheit hergestellt werden, wird die Kanzlerschaft im Verlauf des Wahlverfahrens entschieden.

Mit den möglichen Konstellationen wachsen die inneren Spannungen des Parteiengefüges

Damit fällt dem Bundespräsidenten wie schon bei der Auflösung des Parlaments nun auch bei der Bildung der Regierung eine Schlüsselstellung zu. Schon die Frage, wen er bei unklaren Mehrheitsverhältnissen als Kandidaten dem Bundestag vorschlagen wird, ist heikel. Doch was wird er sagen, wenn der Kanzler erst im dritten Wahlgang gefunden wird? Es ist dem Bundespräsidenten freigestellt, denjenigen, der die relative Mehrheit errungen hat, zu ernennen oder Neuwahlen herbeizuführen. Aber ist Horst Köhler da noch frei? Er hat seinerzeit Neuwahlen befürwortet, indem er in dramatischen Worten den Notstand des Landes schilderte und darauf verwies, dass es eine Regierung brauche, die auf „eine verlässliche, handlungsfähige Mehrheit im Bundestag angewiesen“ ist.

Damit hat er die Latte staatspolitischer Stabilität so hoch gelegt, dass derjenige, der nur mit einer relativen Mehrheit ins Amt kommt, sie eigentlich schon gerissen hat. Neuwahlen wären die Konsequenz. Horst Köhler hat den verfassungsrechtlich möglichen Rahmen künftigen Regierens politisch eingegrenzt. Wenn keiner der Kontrahenten auf Neuwahlen spekuliert, kann unter diesen Vorzeichen nur der Kanzler werden, der sich einer Kanzlermehrheit auch sicher sein kann. Und nach Lage der Dinge wird das weder Angela Merkel noch Gerhard Schröder sein. DIETER RULFF