: Wie Kafkas Käfer in Kairo
Arab Noise In Ägyptens Underground-Szene ist Tamer Abu Ghazaleh eine feste Größe. Sein Album „Thulth“ ist ein Kommentar zur verfahrenen Lage im Nahen Osten
von Stefan Franzen
„Ich habe mich in ein Insekt verwandelt“, singt Tamer Abu Ghazaleh in seinem Lied „El Balla’at“ zu hämmernden Elektro-Chaâbi-Rhythmen. „Jedes Mal, wenn dieses Insekt versucht, sich in Sicherheit zu bringen, wird es beleidigt. Man trampelt auf ihm herum, zerquetscht es, zerbricht es, zündet es an.“ Das klingt nach Kafka in Kairo.
„Das sind keine Metaphern“, stellt der palästinensische Oudspieler, Sänger, Dichter und Komponist klar. „Ich teile vielmehr auf diese Weise meine Gefühle mit: die Frustration und die Enttäuschung über all jene Dinge, die sich in Ägypten nach dem Aarabischen Frühling ereignet haben.“
Als Netzwerker für unabhängige Musik ist Tamer Abu Ghazaleh einer der führenden Kulturschaffenden Ägyptens, die um ihre Revolution betrogen worden sind. Doch er lässt sich nicht unterkriegen. Von Kairo aus hat er ein kleines Imperium an Initiativen aufgebaut: sein Label Mostakell, die Konzertagentur Almoharek, der Verlag Awyav und die Musikzeitschrift Ma3azef – sie alle sind seit 2007 aus seiner Firma eka3 hervorgegangen, die er einen „Brutkasten“ fürs unabhängige arabische Musikgeschäft nennt.
„Viel zu lange mussten wir uns auf einige wenige große Labels verlassen. Es gab kein Ökosystem, das neue Sounds und Sichtweisen genährt, unterstützt und monetarisiert hat. Ich versuche, das zu ändern.“ Die Situation hat sich seit der gescheiterten Revolte nicht verbessert. Ghazaleh betont zwar, dass er nie Zensur oder konkrete Bedrohung erfahren habe. Aber das Fehlen von Kulturfonds und die komplette Ignoranz der Medien vor Ort seien eine große Bürde.
Die eigene Musik dient ihm als Ventil für seine Verzweiflung, die den 31-Jährigen vom Kindesalter an begleitet und die auch mit seiner palästinensischen Herkunft zu tun hat. Zwar wurde der Musiker in Kairo geboren. Während seiner Schulzeit verbrachte er aber sechs prägende Jahre in Palästina und hatte dort Unterricht beim Musikologen Khaled Jubran. Heute, so reflektiert er, sei seine Musik sowohl vom Maqam-System der klassischen arabischen Musik geprägt als auch von westlichen Begriffen wie Harmonie und Kontrapunkt.
Erprobt hat er diese Synthese in verschiedenen Projekten, und seine aktuelle Band setzt sich aus Kairoer, Beiruter und Londoner Musikern zusammen. Sein Album „Thulth“ ist komplex aufgebaut und verbindet arabische Traditionen mit Elektronik, Jazz, Postrock und psychedelischen Einflüssen, Dissonanzen und Brüchen. Das Album ist zudem als Gesamtkunstwerk zu verstehen. In seiner aufwendigen Grafikgestaltung verschmelzen Fotografie und Malerei, und Ghazalehs eigene Poesie fügt Gedichte aus dem Heute und Gestern zusammen.
Im Song „Hob“ etwa singt er Verse des Poeten Qabs ibn al-Mulawwah aus dem siebten Jahrhundert, in denen es um die Qualen der Liebe geht. Ghazaleh hat die alte Dichtung allerdings auf die Gegenwart gemünzt: „In diesem Song spiegelt sich meine Wut über die israelischen Angriffe und die Blockade des Westjordanlands während der zweiten palästinensischen Intifada wieder“, sagt er. Um das Schicksal der Palästinenser geht es auch in „Alameh“, das auf Lyrik des jungen Poeten Ramez Farag aus Alexandria zurückgeht. „Hier geht es um den Wunsch der Palästinenser nach dem Recht, sich in ihrer Heimat niederzulassen oder wenigstens ein menschenwürdiges Leben im Flüchtlingslager zu führen – eine Sehnsucht, die heute auch von Millionen von Syrern, Libyern und Jemeniten geteilt wird.“
Herausragend ist das Stück „Helm“. Dessen Basis bildet Carlos Pueblas Klassiker „Commandante Che Guevara“, auch wenn der Text in eine ganz andere Richtung weist: „Die Zeilen stammen von Naguib Sorour. Er ist eine der Schlüsselfiguren im zeitgenössischen ägyptischen Theater und lyrischen Schaffen“, so Ghazaleh. „Er bezieht sich auf ein Theaterstück, in dem einer Frau in einem Traum der ermordete Geliebte als Schiffbrüchiger erscheint, der mit einem Boot am Horizont verschwindet.“
Dem aufmerksamen Hörer enthüllt Ghazaleh auf „Thulth“ aber auch eine empfindsame Seite. „Rebellentum trägt eine Schönheit in sich“, reflektiert Ghazaleh. „Doch ich mag es nicht, meine Songs vorsätzlich in eine bestimmte Richtung zu entwickeln. Ich teile einfach meine Gefühle mit. Und manchmal sind diese Gefühle eben auch rebellisch.“
Tamer Abu Ghazaleh: Thulth (Mostakell/Cargo)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen