Der wald wird von den deutschen zwar sehr geliebt, gern aber auch verwertet. deshalb werden selbst im waldarmen schleswig-Holstein weiterhin alte bäume umgesägt
: Eine Buche, die gefällt wird, ist für diese Generation weg

Foto: Lou Probsthayn

Fremd und befremdlich

KATRIN SEDDIG

Der deutsche Wald wird von den deutschen Menschen sehr geliebt. Am meisten wird der deutsche Wald von den deutschen Menschen auf einem Ölgemälde geliebt. Da röhrt ein Hirsch, manchmal äst dort ein Reh. Viele Deutsche haben so eine Sehnsucht nach dem deutschen Wald in sich, deshalb hängen sie diese Bilder in ihre Wohnzimmer und ihre Gartenlauben.

In Gartenlauben hängen viele Bilder vom deutschen Wald, obwohl meiner Ansicht nach ein Garten das Gegenteil davon ist. Der Wald ist dem Deutschen jedenfalls sehr wichtig, auch in seinem Verständnis vom Deutschsein. Vor allem alte und starke Bäume, wie die Eiche oder die Buche stehen mit ihrer Hartholzigkeit und ihrer langen Lebensdauer für etwas, was der Deutsche gern auch in sich selbst sehen möchte.

Der Sehnsucht nach dem deutschen Wald steht allerdings eine andere deutsche Eigenheit entgegen: der Drang, aus allem etwas herauszuholen, es sich zunutze zu machen. Den Wald kann man sich zunutze machen, indem man in ihm spazieren geht, man kann ihn sich aber noch viel besser zunutze machen, indem man ihn zerstört, das Holz verkauft, den Boden beackert und Landwirtschaft betreibt.

Schleswig-Holstein ist im zehnten Jahrhundert ein dicht bewaldetes Land gewesen. Neun Jahrhunderte später gab es noch vier Prozent bewaldete Fläche, so sehr hatten die Schleswig-Holsteiner sich den Wald zunutze gemacht. Mittlerweile sind zehn, anderswo heißt es elf Prozent, wieder bewaldet, aber das ist weniger als in Hamburg und Bremen – und das sind Städte! Schleswig-Holstein ist das mit Abstand am ärmsten bewaldete Flächenland in Deutschland. Es ist nicht schön, am Ende zu stehen, ein ärmstes Land zu sein, in welcher Hinsicht auch immer.

Deshalb möchten die Schleswig-Holsteiner aufforsten. Es sollen zwölf Prozent werden. Zwölf Prozent Wald, statt elf Prozent Wald. Mecklenburg-Vorpommern, gleich nebenan, hat 24,1 Prozent. Was ist los mit den Schleswig-Holsteinern, was haben die nur mit ihrem schönen Wald gemacht?

Natürlicherweise würde hier Laubwald wachsen, Buchen vor allem, ein paar Eichen, in feuchten Gegenden Erlen und Eschen. Etwa die Hälfte des Waldes besteht aber aus Nadelbäumen. Nadelbäume wachsen schnell, man kann sie rasch fällen und wieder neu pflanzen.

Die Rotbuche kann 300 Jahre alt werden. Sie wächst gar nicht schnell. Manche freistehende Exemplare sind mit 150 bis 200 Jahren schon ausgewachsen. Ab dem 200sten Jahr wachsen sie dann langsamer, mehr in die Dichte und in die Breite, wie sie Platz haben. Die Stieleiche kann 500 bis 1.000 Jahre alt werden und erst ab dem 60sten Lebensjahr kann sie keimfähige Eicheln bilden.

Wenn also eine Rotbuche gefällt wird, dann wird dort demnächst keine neue Rotbuche stehen. Niemand, den wir kennen, wird an diesem Platz eine neue Rotbuche sehen können, es sei denn ein kleines Zweiglein, ein schmales Ding, aber niemals einen richtigen großen Baum.

Eine Buche, die gefällt wird, ist für diese Generation weg. Eine Eiche, die gefällt wird, sie ist weg. Warum werden also in Schleswig-Holstein, dem in dieser Hinsicht ärmsten Land Deutschlands, noch Buchen gefällt? Warum werden Eichen gefällt, die ein ganzes Menschenleben brauchen, oder sogar zwei oder fünf Menschenleben, um groß zu werden?

Tim Schere, der Direktor der Landesforsten Schleswig-Holstein, wehrte sich kürzlich gegen einen diesbezüglichen Vorwurf in einer Sendung des NDR 1: „Wir hätten mehr fällen können.“ Was soll man dazu sagen? Immerhin, sie hätten ja noch mehr fällen können.

Katrin Seddig ist Schriftstellerin in Hamburg mit einem besonderen Interesse am Fremden im Eigenen. Ihr jüngster Roman „Eine Nacht und alles“ ist bei Rowohlt Berlin erschienen.