Selten miteinander

Die Positionen der Gewerkschaften haben Konjunktur, das haben die Wahlen gezeigt. Doch sie haben wenig davon. Was viel mit ungelösten Konflikten mit der SPD zu tun hat

Auf der Flucht aus der Realität stürzten sich Funktionäre in die Restauration einer linken AntiquitätSPD und Gewerkschaften versagen als politische Sinnstifter der Gesellschaft

In den postelektoralen Deutungskämpfen der Dickhäuter – also dort, wo 10-Prozenter giraffenhalsstarrig von ganz oben herab reden und 34-Prozenter brustschlagend und brüllend Gorillakommunikation proben – wird in Wahlergebnisse so viel hineininterpretiert, das geht auf keine Elefantenhaut. Doch jenseits dessen ist eine Deutung durchgängig stabil: Eine klare Mehrheit hat am 18. September signalisiert, dass ihr soziale Sicherheit und Gerechtigkeit wichtig ist. Für die deutschen Gewerkschaften, die sich im Wahlkampf zurückgenommen haben wie nie zuvor, ist es eine gute Nachricht, dass ihre beiden Kernbotschaften so große Zustimmung finden. Wie aber verträgt sich dieses Wählervotum mit dem Bedeutungsverlust, den Imageproblemen und dem Mitgliederrückgang der Gewerkschaften? Weshalb fließt von diesem Wasser, das doch in ihre Richtung strömt, so wenig auf ihre Mühlen?

Kurzfristig können die Gewerkschaften erst einmal aufatmen. Die FDP-Giraffe muss vom Boden fressen statt, wie sicher erwartet, die süßen Früchte in den Himmel wachsender Bäume. Das befreit die Gewerkschaften von akuten Bedrohungen der Mitbestimmungsrechte, der Tarifautonomie, des Kündigungsschutzes sowie mancher sozial- und tarifpolitischer Errungenschaften mehr. Die Gewerkschaftsmitglieder haben mit ihrem Wahlverhalten zu dieser Befreiung beigetragen. Nach einer Sonderauswertung der Forschungsgruppe Wahlen im Auftrag des gewerkschaftlichen Info-Service „einblick“ wählten die Mitglieder von Arbeitnehmerorganisationen so: 47,4 Prozent SPD, 22,1 Prozent CDU/CSU, 11,8 Prozent Linkspartei/PDS, 8,4 Prozent Grüne, 5,5 Prozent FDP.

Doch schon die Regierungserklärung einer großen Koalition wird das kurze Aufatmen der Gewerkschaften in einen Reizhusten verwandeln. Dass Schröder nicht abgestürzt ist, stellt sich, an der Gewerkschaftspolitik der vergangenen Jahre gemessen, ja durchaus zweischneidig dar: Vor dem Hintergrund des schwarz-gelben Scheiterns können sich die Gewerkschaften freuen; in Erinnerung an ihre massive Kritik der Agendapolitik müssen sie sich besorgt fragen, ob ihre Proteste ungehört verhallt sind. Die Gewerkschaften hatten sich in eine Konstellation manövriert, in der sie immer auch Wahlverlierer sein mussten, egal ob die Agendapolitik wieder gewählt oder eine Kirchhof-Connection installiert worden wäre. Auf der Flucht aus dieser Realität stürzten sich nicht wenige Funktionäre in die Restauration einer linken Antiquität, für die zwei bekannte politische Händler auf dem Meinungsmarkt Höchstpreise versprachen.

Das politische Dilemma der Gewerkschaften ist nicht zuletzt eine Folge ihrer gestörten Kommunikation mit der SPD. In der Beziehung zwischen beiden steckt der Teufel nicht im Detail, sondern in der Struktur, weil hinter jedem Wortwechsel die klassische Frage lauert „wer führt wen“. Die berühmte, demnächst hundertjährige „Mannheimer Antwort“ aus dem Jahr 1906 – erstens sind beide gleichberechtigt, zweitens ist die „Einheitlichkeit des Denkens und Handelns von Partei und Gewerkschaft ein unentbehrliches Erfordernis“ – markiert das Problem wie unter dem Brennglas. Wenn Gleichberechtigung und Einheitlichkeit gleichermaßen gelten sollen, lauert in jedem Konflikt die Konfrontation. Die wechselseitige Beziehungsbotschaft im Konfliktfall lautet: Ich bin okay, du bist nicht okay. Schulterklopfende Kommunikation der Einverstandenen, die Dissens verschweigt, oder vorwurfsvolle Kommunikation der Unverstandenen, die Konsens vergisst, bilden die beiden dominanten Varianten der Verständigung zwischen SPD und Gewerkschaften.

Doch was sich hier abspielt, ist viel mehr als ein Beziehungskonflikt. Das große Drama ist ein gesellschaftliches. Den neuen Verhältnissen, den Modernisierungsprozessen im digitalisierten und globalisierten Kapitalismus einen Sinn abzugewinnen, der ihnen gesellschaftliche Deutungshegemonie verschafft, ist weder der SPD noch den Gewerkschaften gelungen. Beide neigen dazu, das zu ignorieren. Vielleicht weil sie zu stark damit beschäftigt sind, sich als Verräter an den alten Ideen beziehungsweise als Ignoranten der neuen Realitäten zu brandmarken. SPD und Gewerkschaften stecken heute in einer doppelten Schwierigkeit: Mit Blick auf die je eigene Organisation driften sie in verschiedene Sinnwelten auseinander und machen daraus einen wechselseitigen Vorwurf. Mit Blick auf die Gesellschaft versagen sie beide als politische Sinnstifter und machen daraus kein gemeinsames Projekt.

Dem Bedürfnis nach sozialer Sicherheit und mehr Gerechtigkeit zu entsprechen, verlangt als Erstes, auf die Massenarbeitslosigkeit und die Löcher in den Sozialkassen eine Antwort zu wissen. In den Betrieben und Verwaltungen erleben viele Menschen, dass die Gewerkschaften oft gute Arbeit leisten. Aktuell weiß Lidl ein Lied davon zu singen. Dort, wo engagierte Kolleginnen und Kollegen das Aktionsfeld Betrieb im offenen Dialog mit den Beschäftigten und in enger Abstimmung mit den Betriebsräten beackern, sind sie anerkannte Interessenvertreter geblieben oder wieder geworden. Sie sichern Arbeitsplätze, schützen Sozialstandards und machen sich stark für Innovationen, in NRW beispielsweise unter der Devise „besser statt billiger“.

Aber die punktuelle betriebliche Stärke leidet unter der allgemeinen gesellschaftspolitischen Schwäche. Seit sie 1981 „Vorschläge zur Wiederherstellung der Vollbeschäftigung“ vorgelegt haben, ist den Gewerkschaften – dem Rest der Republik übrigens auch nicht – wenig Neues eingefallen. Schlimmer. Die beiden zentralen Vorschläge, Arbeitszeitverkürzung und Beschäftigungsprogramme, traut sich keiner mehr laut zu äußern. Der parteiübergreifenden Regierungspraxis – für Sozialabbau um Verständnis zu bitten und für Wachstum vor dem Wirtschaftsaltar zu beten (nicht ohne Opfergaben abzuliefern) – hat die Gewerkschaftspolitik nicht viel mehr entgegenzusetzen als ihren Protest. Das ist den Menschen, die für soziale Sicherheit und Gerechtigkeit votieren, zu wenig. Deshalb verwandeln sich diese Stimmen nicht in eine pro-gewerkschaftliche Stimmung.

Neue Antworten müssen die Gewerkschaften selbst finden. Die Bereitschaft, anzuerkennen, dass die alten nicht mehr greifen, weil sie die Wirklichkeit nicht mehr begreifen, wäre der erste Schritt. Organisationen reden sich häufig ihre Lernschwächen schön mit der angeblich unverzichtbaren Geschlossenheit. Aber nur schwache Vorstände leben von Einheitsappellen, starke Organisationen von Offenheit und Vielfalt. Ob sich die Deutsche Bahn mit ihrem Preissystem blamiert oder eine Gewerkschaft mit ihrer Politik, die Wurzel des Übels ist stets dieselbe: die Unwilligkeit, sich auf Veränderungen seiner Umwelt, seiner Kunden, seiner Mitglieder einzulassen. Organisationen neigen dazu, sich genau das als Wirklichkeit einzubilden, womit sie am ungestörtesten leben können. Das kann zum Tod durch Einbildung führen, wie wir seit 1989 wissen. HANS-JÜRGEN ARLT