„Riesiger Schritt für die Türkei“

Allen Widerständen und Protesten zum Trotz geht in Istanbul die erste Konferenz über die Armenier-Frage über die Bühne. Damit ist die Debatte jetzt offiziell eröffnet

ISTANBUL taz ■ „Es ist unglaublich. Ein riesiger Schritt für die Türkei“. Taner Akcam, der an einer Universität in den USA lehrt, ist immer noch ein wenig fassungslos. „Dass diese Konferenz über die Armenier-Frage jetzt doch in Istanbul stattfindet, hätte ich nie für möglich gehalten. Man kann die positive Wirkung nicht hoch genug einschätzen.“

Tatsächlich hatte es zwei Tage zuvor noch ganz anders ausgesehen. Trotz positiver Signale aus Regierungskreisen – es war die Rede davon, dass Außenminister Abdullah Gül die Konferenz eröffnen würde – standen die Veranstalter am vergangenen Donnerstag nach einem ersten Scheitern im Mai wieder vor den Aus. Eine nationalistische Juristenvereinigung hatte bei einem Verwaltungsgericht erfolgreich eine einstweilige Verfügung gegen die Konferenz beantragt. Der Hintergrund der Aktion war offenkundig. Erstmals wollten sich in der Türkei Wissenschaftler öffentlich zu Wort melden, die der offiziellen türkischen Haltung, die Vertreibung der Armenier aus Ostanatolien sei eine kriegsbedingte Notwendigkeit gewesen, kritisch gegenüberstehen.

Dies per Gerichtsbeschluss verhindern zu wollen, erwies sich schnell als Bumerang für die Nationalisten. Unmissverständlich machte Premier Tayyip Erdogan noch am Donnerstagabend klar, dass er den Gerichtsbescheid für eine unzulässige Einmischung in die demokratischen Freiheiten und für einen Verstoß gegen die Meinungsfreiheit hält. Selbst der traditionell regierungsfeindliche, kemalistisch dominierte Hochschulrat YÖK verurteilte den unzulässigen Eingriff in die Freiheit der Wissenschaft. Auch ein Sprecher der Opposition erklärte, jeder müsse sich in dieser Frage frei äußern können.

Hinter den Kulissen wurde unterdessen eifrig telefoniert. Außenminister Gül schaltete sich von New York aus ein und Erdogan sicherte dem Rektor der Bilgi-Universität persönlich seine Unterstützung zu, nachdem die Bilgi-Uni als alternativer Tagungsort ins Gespräch gekommen war. So kam es am Samstagmorgen zu einer für die Türkei bis dahin unvorstellbaren Szene: Die Kritiker und angeblichen Vaterlandsverräter, denen Justizminister Cicek im Mai unterstellt hatte, sie machten sich zu nützlichen Idioten der armenischen Diaspora, zogen unter massivem Polizeischutz vor einer wütenden Menge türkische Fahnen schwenkender Nationalisten in die Bilgi-Universität ein, um ihren Kongress abzuhalten.

Dabei kam es erneut zu einer Umkehrung der gewohnten Verhältnisse. Obwohl das Publikum überwiegend mit den Referenten sympathisierte, gab es auch kritische Stimmen. Plötzlich sahen sich die Kritiker selbst der Kritik ausgesetzt. Doch die wollten sich ihren Erfolg nicht trüben lassen. „Heute“, beschied Halil Berktay, eine der Schlüsselfiguren der Konferenz, einen Mann, der die homogene Ausrichtung des Podiums beklagte, „sitzen wir hier. Jetzt reden wir und Sie hören zu.“ Auch wenn das zunächst sehr schroff klang – die öffentliche Debatte um die Vertreibung und Ermordung der Armenier im Osmanischen Reich ist in der Türkei eröffnet.JÜRGEN GOTTSCHLICH

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