Die Braut, die keiner will

Nächsten Montag, am Tag der deutschen Einheit, wird im mecklenburgischen Tessin ein Golfturnier ausgetragen: der „Einheits-Cup“. Doch was hat sich sonst getan in den 16 Jahren seit der Wende? Ein Stimmungsbild aus dem nahen Osten

„Es gibt viele Sturköpfe hier“, sagt die Managerin

Tessin ist ein Sackbahnhof. Der Fahrkartenschalter ist zutapeziert, die Gaststätte hat noch geschlossen. Ein Zug, darinnen ein paar Pendler, steht auf dem Gleis und wartet.

Viele Touristen verirren sich nicht nach Tessin, das in Mecklenburg liegt. Rostock ist 20 Kilometer entfernt, bis nach Hamburg sind es 205, nach Berlin 212 Kilometer. Mit Tessin, dem Kanton der italienischen Schweiz, hat das mecklenburgische Tessin wenig zu tun. Der Name ist slawischen Ursprungs. Gelegentlich werden verwirrte Anrufer nach Tessin, Mecklenburg durchgestellt, die eigentlich Lugano sprechen wollten. Manchmal besuchen neugierige Eidgenossen die Stadt und tragen sich ins Gästebuch ein.

7.300 Menschen leben in Tessin und den zugehörigen Landgemeinden, vor der Wende waren es 634 mehr. Millionen Staatsgelder sind in die Region geflossen. Abermillionen. Für, erstens: Arbeitsbeschaffung. Zweitens: Stadterneuerung. Drittens: Strukturanpassung. Viertens: ... Vom Aussichtsturm am Ortsausgang sieht und hört man die so genannte Ostseeautobahn A 20, die als „Projekt der deutschen Einheit“, gar als „Baltische Magistrale“ annonciert wurde und erst seit wenigen Monaten Lübeck nahezu nahtlos mit Stettin verbindet.

Tessin liegt in der Morgensonne, eine Schule hat irrsinnig blaue Fenster, die Backsteinkirche Sankt Johannes hockt wie eine Glucke über der Stadt. Und hinter der Kirche ragt ein Schlot auf. Der Schlot gehört zur ehemaligen Zuckerfabrik.

Im Rathaus ist die Zuckerfabrik ein heikles Thema. Der Bürgermeister ist ausgeflogen, Kurzurlaub auf den Kanaren, und sein Vertreter, Bauamtsrat Josef Krebes, sagt, was über die Zuckerfabrik geschrieben werden soll und was nicht. Die Geschichte mit dem Herrn Hansen soll nicht geschrieben werden.

Die Zuckerfabrik: Sie ist so etwas wie eine offene Wunde im Gesicht der Stadt. Eine Industrieruine auf 27.000 Quadratmetern. Allein die 1896 erbaute Haupthalle ist knapp 1.000 Quadratmeter groß. Vor der Wende war die Zuckerfabrik Hauptarbeitgeber der Stadt. 200 ständige Arbeitsplätze, während der „Kampagne“ noch einige hundert mehr.

Es gibt in Tessin kaum jemand unter 45, der nicht entweder selbst dort gearbeitet hat oder doch zumindest Eltern, Großeltern, Urgroßeltern in der örtlichen Zuckerproduktion wusste. Beinahe 100 Jahre war die Rohzuckergewinnung ein einträgliches Geschäft. Bis in die 60er Jahre lieferte eine eigene kleine Bahnlinie die Rüben aus der Republik an. 1990 kaufte der dänische Zuckerproduzent Danisco die Tessiner Zuckerfabrik. Unmittelbar vor der Kampagne im September 1990 erfuhren die Arbeiter in Tessin, dass sie nicht mehr gebraucht wurden. Der Standort wurde geschlossen, und der Herr Hansen trat auf den Plan.

„Herr Hansen“ nennen ihn alle hier. Selbst das Denkmalschutzamt Bad Doberan schrieb im Briefkopf schlicht an den „Herrn Hansen“, unterrichtete den Dänen vom Eintrag der Alten Zuckerfabrik in die Denkmalliste und untersagte ihm, ohne Absprache bauliche Veränderungen am historischen Industriegebäude vorzunehmen.

Den Herrn Hansen kümmerten derlei Auflagen nicht – vielleicht kamen sie auch zu spät. Er entfernte die museale, aber noch funktionstüchtige Technik, ließ Sondermüllberge auf dem Gelände wachsen – und entriss der Halle ihre fulminante Holztreppe mit dem eisengeschmiedeten Geländer, einem Meisterwerk eklektizistischer Industriearchitektur, das jetzt nur noch auf Fotos zu bewundern ist.

Reinhard Gierke ist Koordinator des Projekts „Alte Zuckerfabrik“, er kennt hier jeden Winkel. Unter der Ägide des Herrn Hansen sei die Fabrik in einen „ruinösen Zustand“ gebracht worden, erklärt Reinhard Gierke verbittert, während er durch die Hallen geht und über den Hof, an den Müllbergen vorbei, deren Entsorgung die Stadt nach aktuellem Kenntnisstand 40.000 Euro kosten würde. Ein legales Feuerchen qualmt neben Schuttresten. Hinter der Mauer der ehemaligen Kartoffelflockenfabrik, jetzt Sitz des Bau- und Hobbymarkts, grast ein Schaf.

2003 war der Traum vom Segen bringenden skandinavischen Investor endgültig geplatzt, und die Stadt Tessin kaufte die Zuckerfabrik von einer Projektentwicklungs-Gesellschaft zurück, an die der Herr Hansen die Reste der ehedem stattlichen Rübenburg inzwischen veräußert hatte. „Ungefähr 40.000 Euro“, sagt Josef Krebes im Rathaus, habe sich die Stadt den Quasi-Rückkauf kosten lassen.

Für die „Beräumung der Ruine“ wurden Fördermittel locker gemacht. Mit derzeit sieben Strukturanpassungsmaßnahmen (SAM), acht ABM-Stellen und zusätzlichen Ein-Euro-Jobbern wird die Fabrik auf Vordermann gebracht. Der Boden der Haupthalle wird fachmännisch mit Pflasterklinker ausgelegt, die Freifläche draußen ist vom Schutt beräumt.

Gesucht wird: ein Investor. Es gebe Nutzungskonzepte für die Fabrik, beteuert Josef Krebes im Rathaus. Reinhard Gierke zuckt die Achseln. Eine Eisbahn war angedacht, ein Golfhotel, aber Konkretes... „Wir machen das Objekt für den großen Unbekannten interessant“, sagt Projektleiter Gierke. Dann lächelt er und gießt den Status quo in ein blumiges Bild: „Wir schmücken die Braut für den Bräutigam.“ Es wäre wohl nicht die erste Braut, die in vollem Ornat sitzen gelassen wird.

Der Herr Hansen hat Tessin noch etwas anderes hinterlassen, direkt neben der Zuckerfabrik. Steigt man die Stufen zum nördlichen Rübenbahn-Damm hinauf, steht man mitten auf einem Golfplatz. 1998 wurde die Anlage auf dem ehemaligen Schlammteichgelände der Zuckerfabrik eröffnet. Das Clubhaus befindet sich im einstigen Schwefelsäurelager.

Nur die großen schwarzen Hängelampen unter dem Terrassenvordach erinnern noch an alte Zeiten, ansonsten strahlt das weiß gestrichene Clubhaus mit der Edelholzbar und dem gemauerten offenen Kamin rustikalen Charme aus. Auf dem Fenstersims steht ein golfender Donald neben einem ausgestopften Rebhuhn.

Ingrid Joch steht hinterm Tresen. Auch sie hat früher in der Zuckerfabrik gearbeitet. Sie berichtet von der Müllkippe direkt neben dem Golfplatz. Gott sei Dank wird sie dieses Jahr geschlossen. Erstens ist der Müllberg kein schöner Anblick, und zweitens, was die Möwen alles auf den Platz schleppen: abgenagte Knochen, Papier, Taschentücher... Man sieht ihrer Miene an, dass sie Schlimmeres, was ihr jetzt dazu einfällt, verschweigt – mit Rücksicht auf den Gast, der Wiener Würstchen verspeist.

Golf-Managerin Marita Ritter kommt vom Einkaufen zurück. Die gebürtige Rostockerin leitet den Club. Also: Wie wäre es mit einem Golfhotel in der Fabrikruine nebenan? Die sportlich-elegante Clubmanagerin zieht pikiert die Augenbrauen hoch. „Das würde doch gar nicht hierher passen. Dafür gibt es keinen Bedarf.“ Aus dem Fenster ihres Büros schaut sie auf die alte Transmissionshalle, die Müllberge. Die Jalousie hat Lamellen.

Die Mitglieder des Golfresorts leben in Rostock, Hamburg, München, Stuttgart, Iserlohn zählt Marita Ritter auf. Einer stammt sogar aus dem Tessin, Schweiz. Das ist kein Scherz, auch wenn vielleicht ein bisschen Jux dabei ist.

Der Club braucht mehr Mitglieder, um sich halten zu können. Wo sollen die herkommen? Mit den Einheimischen hat man weniger zu tun, und wenn, dann sind es meist unliebsame Ereignisse. Schon häufiger wurde in die Gerätehalle eingebrochen, Maschinen herausgeholt. Fahnen wurden aus dem Boden gerissen, Golfbälle entwendet, hunderte Stück. „Damit können sie doch gar nichts anfangen“, stellt Marita Ritter fest. Sie, die Tessiner. Manchmal stehen sie als Spaziergänger getarnt am helllichten Tag auf dem Golfrasen und feixen. „Es gibt viele Sturköpfe hier“, weiß die Mecklenburgerin. Doch eine Mauer ums Gelände ist auch keine Lösung. „Dann“, sagt Ritter, „würden wir uns ja noch mehr ausgrenzen.“

Mechthild Bausch