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Eine Mauer um die Armut

Santa Marta ist die Vorzeige-Favela von Rio, ein Versuchslabor. Hier bereitet man sich auf Olympia 2016 vor

Gewalt in Brasilien

■  Kriminalität: Drogen- und Waffenhandel, Korruption in der schlecht bezahlten, schlecht organisierten Polizei, paramilitärische Milizen und kaum entwirrbare Interessenkonflikte zwischen Politik, Justiz, Medien und organisierter Kriminalität: Das Panorama der Gewalt in Rio ist komplex. Als Folge von „Widerstand gegen die Staatsgewalt“ hat die Polizei seit 1998 mehr als 10.000 Menschen getötet – 2,4 am Tag. Laut Amnesty International machten Fälle, bei denen auch Unschuldige umkamen, 2008 mehr als ein Viertel aller gewaltsamen Todesfälle aus. Unter dem seit 2007 regierenden Gouverneur Sérgio Cabral liegt die tägliche Durchschnittsquote mit 3,3 am höchsten – wenn auch die Tendenz rückläufig ist.

 Gesellschaft: Vor allem in der tonangebenden Mittel- und Oberschicht wächst die Akzeptanz für die „harte Hand“. Geschürt wird sie durch ein Trommelfeuer in den Medien. „Sozialfaschismus“ nennt das die Kriminologin Vera Malaguti: „Es gibt eine Festungsmentalität gegenüber den Armen. Brasilien bleibt in dieser Logik gefangen, die stark von Konzepten aus den USA und Israel beeinflusst ist. Das ist gut für große Geschäfte, für die Medien, den Waffenhandel, technische Consultings, die Kriminalitätskontrollindustrie.“

■  Olympia: Im Hinblick auf die Spiele 2016 zeichnet sich bislang keine Wende ab. Stattdessen greift die Mauerlogik weiter um sich: Nun möchte Bürgermeister Eduardo Paes zwischen den zwei große Ausfallstraßen nach Norden und den angrenzenden Favelas Betonwälle errichten lassen. (gd)

AUS RIO DE JANEIRO GERHARD DILGER

„Für manche sind die Olympischen Spiele nur eine Sportveranstaltung“, sagte Luiz Inácio Lula da Silva neulich in Rio, „für mich sind sie die endgültige Bestätigung der Bürgerrechte.“ 2016 wolle man der Welt beweisen, „dass hier in Brasilien Schwarze und Weiße, Arme und Reiche gleich behandelt werden“.

Die Worte des Präsidenten klingen wie ein schöner Traum – vor allem nach den jüngsten Gewaltausbrüchen im Norden der „wunderbaren Stadt“, bei denen Drogenhändler einen Polizeihubschrauber abgeschossen hatten und bei den anschließenden Gefechten Dutzende ums Leben kamen. Sie passen auch nicht recht zur Drohung von Rios Sicherheitsminister José Mariano Beltrame, der behauptete: „Das war unser 11. September“.

Mit einer „Befriedungspolizei“, die bislang in vier von gut tausend Favelas aktiv ist, hatte die Landesregierung bei der Olympia-Bewerbung geworben. „Der Drogenhandel geht, die Polizei bleibt – für immer“, verspricht Beltrame auf der zweisprachigen Website des Projekts „UPP Repórter“.

Dabei ist die Favela Santa Marta ein Versuchslabor. Schon ihr Anblick von den besseren Wohnvierteln im südlichen Bezirk Botafogo aus ist ungewöhnlich: Bunt bemalte Häuser kleben am Hang, eine Zahnradbahn fährt zum Nulltarif bis ganz nach oben. Von dort aus genießen Touristen das atemberaubende Panorama – links der Zuckerhut, rechts die Christusstatue auf dem Corcovado, am Horizont das glitzernde Meer. Dann schlendern sie unbehelligt durch das steile Gassenlabyrinth.

Noch vor einem Jahr wäre das undenkbar gewesen. Doch nach dem Großeinsatz „Ordnungsschock“ im November 2008 blieb die Polizei – und die Drogenhändler, allen voran Francisco Rafael Dias da Silva alias Mexicano vom „Roten Kommando“, sind anderswo untergeschlüpft. Im Februar kam Präsident Lula vorbei und verkündete: „Wenn man bloß die Polizei herholt, aber nicht Gesundheit, Schulen, Kultur und Arbeitsplätze, dann kommt die Gewalt wieder.“

Spezialausbildung

Die 120 Mitglieder der „Befriedungspolizei“, die abwechselnd in Santa Marta Dienst tun, haben eine einjährige Spezialausbildung hinter sich und bekommen eine Gehaltszulage, erzählt Leonardo Albuquerque. Der junge Polizist steht an einem Streifenwagen an der unteren Zufahrt und gibt zu: „Die meisten Bewohner sind immer noch misstrauisch.“

In dem Viertel, in dem vor allem Nachfahren von Afrobrasilianern und Migranten aus dem armen Nordosten wohnen, ließ Michael Jackson 1996 unter der Obhut der lokalen Drogenbosse einen Videoclip drehen. Der Song „They don’t care about us“ schien wie auf die Favela-Bewohner zugeschnitten.

Direkt unter der Plattform, auf der Jackson damals tanzte, liegt das renovierungsbedürftige Kulturhaus, wo die NGO „Soziale Haltung“ ihre Trommeln lagert. „Seit Monaten werden wir von der Stadtverwaltung vertröstet“, sagt Musiklehrer Pierre Ávila und zeigt auf die modrige Decke. Vorrang habe das Projekt des Gouverneurs, ein Denkmal für den verstorbenen Superstar zu errichten.

„Der größte Fortschritt ist, dass wir keine Angst mehr vor Querschlägern zu haben brauchen“, findet er. Auch die Öffnung von Santa Marta für Außenstehende und die Aussicht auf mehr Kulturprogramme lobt Ávila, der den Kids von Santa Marta die ganze Bandbreite brasilianischer Musik von Samba über Rock bis Klassik nahebringt. Bevorzugter Probeort ist die „Arena“.

Unmittelbar dahinter erstreckt sich eine frisch errichtete Mauer, die angeblich verhindern soll, dass sich die Favela in den Atlantischen Regenwald hineinfrisst. 634 Meter lang und 3 Meter hoch ist sie hier, auf der anderen Seite, weit unten ist der Sportplatz der Deutschen Schule zu erkennen. Auch andere Favelas in unmittelbarer Nähe der Nobelviertel in Rios Süden sind inzwischen eingemauert.

30 Meter Brachland

Eine „Machtdemonstration“ vermutet Pierra Ávila, „die Favela hat sich doch gar nicht ausgebreitet“. Tatsächlich erstreckt sich zwischen der „Öko“-Mauer und den nächstgelegenen Häusern von Santa Marta ein gut 30 Meter breiter Streifen Brachland. Ähnlich sieht das der langjährige Stadtteilaktivist Itamar Silva: „Der Staat setzt auf die Logik der Angst. Der Mittelschicht signalisiert er: Beruhigt Euch, wir werden die Favelas kontrollieren.“

Die Wohnsituation der rund 10.000 Bewohner ist alles andere als idyllisch. Im oberen Teil überwiegen noch immer verschachtelte Bretterbuden mit Wellblechdächern, die Abwässer fließen in offenen Gräben hangabwärts. Dennoch kann sich Salvador de Pinto Souza, 70, nicht mit dem Gedanken anfreunden, ein paar Meter weiter eine der 32 Quadratmeter großen Neubauwohnungen zu beziehen: „Wie soll ich da meine 20-köpfige Familie, meine Enkel und Urenkel unterbringen?“

Über die Polizei will sich der Veteran, der seit 1953 in Santa Marta wohnt, genauso wenig äußern wie über die Drogenhändler, die das Viertel in den vergangenen 20 Jahren beherrscht haben: „Ich verstehe mich gut mit allen“, schmunzelt der bärtige Alte, „wer zu viel redet, der gräbt sich sein eigenes Grab.“

Erika Souza, die Sekretärin der Einwohnervereinigung, stören neben der Mauer vor allem die neun Überwachungskameras, die vor kurzem installiert wurden: „Das ist unser Big Brother“, meint die 23-Jährige in ihrem engen Büro und fügt bedauernd hinzu: „Viele gewöhnen sich schon daran.“ Dafür, dass es nur langsam vorangehe, seien aber nicht nur die Behörden schuld. „Oft rudern wir gegen die Strömung, die Leute ziehen einfach nicht an einem Strang.“

„Für mich hat sich nicht viel geändert“, meint Daniel Cunha, der das Internetzentrum der Einwohnervereinigung leitet. „Die Medien vermitteln von den Favelas ein Zerrbild“, sagt der 18-jährige Schüler, „so schlecht ging es uns auch vorher nicht, die Drogenhändler haben sich ja nicht mit den Bewohnern angelegt.“ Mit den Polizisten komme es aber auch jetzt immer wieder zu Reibereien: „Manchmal gehen sie ohne Grund ins Viertel, fahren junge Leute mit lauter Stimme an, verbieten Feste.“

Viel deutet darauf hin, dass die Gewalt durch Verteilungskämpfe rivalisierender Drogenbanden ausgelöst wurde

Gar nicht gut auf die blau Uniformierten sind einige junge Damen in den engen, schattigen Gassen im unteren Teil von Santa Marta zu sprechen. „Das ist keine Befriedungspolizei, das ist eine Schlägerpolizei“, beklagt sich Marina, die ihren Nachnamen nicht nennen will. „Immer wieder müssen wir uns ohne Grund irgendwelchen Leibesvisitationen unterziehen, das ist demütigend“.

„Besatzungspolitik“

Für die Kriminologin Vera Malaguti hat die Vorgehensweise der Behörden System: „Es ist eine Besatzungspolitik mit autoritären Kontrollmaßnahmen, um die arme Bevölkerung in Schach zu halten.“ Jenes „Kriegsparadigma“, das soziale Konflikte mit strafrechtlichen Mitteln zu lösen versuche, habe Brasilien aus den USA importiert, sagt Malaguti. „Die Polizei managt das Leben der Armen, immer mit dem Hintergedanken, sonst werden diese Leute kriminell.“

Itamar Silva, der sich bereits seit den Achtzigerjahren in Santa Marta engagiert und 1989 den Präsidentschaftskandidaten Lula durch sein Viertel führte, befürwortet prinzipiell das stärkere Engagement des Staates. Doch ihm fehlt die Mitsprache der Betroffenen.

Die Idee einer angepassten Urbanisierung einschließlich Zahnradbahn geht auf das Jahr 1986 zurück, erzählt er. Doch als die Renovierungsarbeiten vor fünf Jahren tatsächlich begannen, war die Beteiligung der Bewohner nur noch minimal. „Heute werden wir regelrecht von Regierungsinitiativen überrollt, und bei der geringsten Kritik heißt es gleich, ach, dann sind euch die Gangster lieber?“

Die „Befriedungspolizei“ allein sei alles andere als ein Patentrezept gegen die Gewalt, meint Silva, „das Problem ist viel komplexer, Geld und neues Kriegsgerät reichen nicht“. Vieles deutet darauf hin, dass die jüngste Gewaltwelle auch durch Verteilungskämpfe zwischen rivalisierenden Drogenbanden ausgelöst wurde, die sich nach der „Befriedung“ der Modell-Favelas weniger Verkaufsstellen teilen müssen.

Sicher werde Rio von den Olympischen Spielen profitieren, sagt Itamar Silva, „aber die spannende Frage lautet doch: Wer gewinnt was? Die Sozialagenda ist bisher schäbig, das muss sich ändern. Wie kann Rio eine gute Stadt für alle werden?“

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