Friedlich in die Walpurgisnacht

Auftakt Das Thema Gentrifizierung lockt mehrere tausend TeilnehmerInnen zur Demo im Wedding

Von zahlreichen Balkonen wehen gentrifizierungskritische Transparente

„Überall in Berlin brennt die Luft“, ruft ein junger Mann vom Lautsprecherwagen. „Wir haben keinen Bock mehr auf steigende Mieten, Zwangsräumungen und Verdrängung“, ruft die Frau neben ihm ins Mikrofon. „Selbstorganisiert gegen Rassismus und Verdrängung“ – mit diesem Motto spricht die Demonstration, die am Sonntag unter dem Titel „Organize!“ drei Stunden lang durch den Wedding zog, eines der drängendsten Probleme Berlins an. In keiner deutschen Großstadt sind die Mieten in den vergangenen zehn Jahren so angestiegen wie in der Hauptstadt.

Zwei Frauen mit Kopftuch laufen hinter einem Transparent mit der Aufschrift „Veränderung selber machen“ her. Auf dem Rucksack der Demonstrantin neben ihnen prangt ein „Still not loving Police“-Aufnäher. Und während vorne an der Spitze des Zuges der typische Block aus jungen Leuten mit Kapuzenpullis und Sonnenbrillen seine Parolen ruft, bilden Familien mit Kinderwägen im „Kids Block“ das Ende der Demo. Insgesamt sind etwa 3.000 Menschen gekommen – mehr als in den Jahren zuvor.

Am Sonntagabend spricht die Polizei von einem friedlichen Verlauf des Umzugs. Ein Beamter wurde durch einen Flaschenwurf verletzt, es gab eine Festnahme. Obwohl die Demonstration auch schon in den vergangenen Jahren friedlich ablief, schickte die Polizei mehrere Hundertschaften in voller Montur. Vor dem Amtsgericht Wedding hatten sich zahlreiche behelmte Polizist*innen mit Hunden aufgebaut. „Hört auf, uns zu provozieren und unseren Protest zu kriminalisieren“, hieß es vom Lautsprecherwagen. Demobeobachter*innen kritisierten den Einsatz zahlreicher Zivilpolizisten.

„Wir sind eine Kiezdemo“

„Wir sind eine Kiezdemo“, sagt Martin Steinburg, Sprecher des „Organize!“-Bündnisses. „Uns geht es darum, dass sich Nachbarinnen und Nachbarn vernetzen.“ Neben der Gruppe Hände weg vom Wedding, die die Walpurgisnacht-Demo 2012 in den Stadtteil holte, haben auch Organisationen wie die Erwerbsloseninitiative Basta, die Obdachlosenhilfe, der Sportverein Roter Stern und die Geflüchteteninitia­tive Lager Mobilisation Berlin zu der Demo aufgerufen.

Seit vergangenem Jahr startet der Zug schon am Nachmittag – mit den früheren Krawallen in der Nacht zum 1. Mai hat die Demonstration nicht mehr viel zu tun. Mit politischen Inhalten umso mehr.

„Dieser Neubau steht symbolisch für die voranschreitende Aufwertung des Stadtteils“, ruft die Frau auf dem Lautsprecherwagen. Die Demo ist neben einer Baustelle zum Stehen gekommen – „Study in Style“ steht auf den Werbebannern, die vorm Baugerüst flattern. Das Gebäude in der Müllerstraße soll einmal voll möblierte Studierendenapartments enthalten – zu saftigen Preisen.

Auf ihrer Route Richtung S-Bahnhof Gesundbrunnen wird die Demo noch an anderen Punkten halten: in der Koloniestraße, wo Hausbewohner*innen ­gegen bis zu hundertprozentige Mieterhöhungen kämpfen. Im Sprengelkiez, wo die Gentrifizierung mit am deutlichsten zu sehen ist. Am Nauener Platz, der als Treffpunkt türkischer Natio­nalisten gilt.

Kurz zuvor hatte sich ein Mann mit Türkeiflagge aus dem Fenster gelehnt und den Wolfsgruß gezeigt, das Handzeichen der faschistischen türkischen Grauen Wölfe. Das bleibt ein Einzelfall: Immer wieder passiert die Demo Balkone, von denen gentrifizierungskritische Transparente wehen. Jeder Redebeitrag vom Lautsprecherwagen wird ins Arabische übersetzt.

„Eine sozial gerechte Stadt für alle statt rassistischer Polizeikontrollen, Zwangsräumungen und Lagerindustrie“, schallt es von dort. „Das kann keine Partei erreichen, das können nur wir!“ Um dieses Ziel zu verwirklichen, belässt das Bündnis rund um Hände weg vom Wedding es nicht bei einer Demo im Jahr. Monatlich lädt die Gruppe zu einem gemeinsamen Kneipenabend ein, ihre Webseite verweist auf andere Initiativen im Stadtteil. Wenn es um Vernetzung geht, ist das Bündnis pragmatisch: „Heute Nachmittag demonstriert ihr hier mit uns gegen Rassismus und Verdrängung“, ruft die Rednerin der Menge zu. „Morgen oder heute Abend könnt ihr bei euren Nachbarinnen und Nachbarn klingeln. Lernt euch kennen und haltet zusammen!“ Dinah Riese