Berliner Szenen
: U 55

In der Stummelbahn

Sie hatte ihn angelächelt, weil sie ihn für wichtig hielt

Sie war die Frau mit der Umschaltfunktion: in einem Moment einfühlsam, im nächsten gefühlskalt. Klick. Er träumte davon, sie verlassen zu können. Obwohl sie ihm das nicht zutraute. Aber er ging tatsächlich auf den Bahnhof, um wegzufahren, zumindest für ein paar Tage. Ein paar Tage ohne sie.

Sie aber liebte ihn. Aufrichtig und immer noch. Erwähnte man seinen Namen während seiner Abwesenheit, schaute sie reflexhaft auf ihr Handy, um zu checken, ob er sich gemeldet hatte. Heute trug sie ein T-Shirt mit der Aufschrift SAME CLINIC, DIFFERENT DAY. Sie saß in einer anderen Bahn und legte ihr rechtes Bein über die Beine ihrer neben ihr sitzenden Freundin. Sie trug blickdichte Strumpfhosen.

Als sie ihn zum ersten Mal gesehen hat, vor gut acht Jahren, hat sie ihn angelächelt, weil sie ihn für irgendwie wichtig hielt. Als sie ihm das gestanden hatte, Jahre später, war er sauer gewesen. Sie hielt das für eine Geschichte, die für ihn sprach. Er stand am Bahnsteig und musterte die Werbung für eine Partnerbörse im Netz. 11 Minuten bis zur nächsten Bahn. Niemand schreibt noch Stellenanzeigen. Niemand schreibt noch Heiratsannoncen wie: „Du hast gestern in der U6 nach Mehringdamm gesessen und mich keines Blickes gewürdigt, bitte schreibe mir unter Chiffre …“

Sie ließ ihn warten, damals, als sie ihr erstes Date hatten. Stieg in die falsche U-Bahn, kam eine halbe Stunde zu spät. Er war aufgebracht. Es war eine Gelegenheit, sie seinen Freunden vorzustellen. Die hatte sie verpasst. Er saß jetzt in der Stummelbahn, die vom Brandenburger Tor zum Hauptbahnhof fuhr. Wie es schien, war er der einzige Fahrgast mit Mission. Die anderen waren Touristen, die sich hier auf fahrende Geschichte einließen – die Fotos, die Plakate, die uralten Bahnen. Sie fuhr mit ihrer Freundin nach Hause. Sie vermisste ihn jetzt schon. René Hamann