Die Einheit steht still

Angela Davis oder der Chor der Frustrierten – wer sind die Monster, wer die Helden des Alltags? Für „Poker im Osten“ hat das HAU eine Reihe von Theoretikern, Regisseuren und Theatergruppen engagiert, den Mythos Wiedervereinigung zu erforschen

VON CHRISTIANE KÜHL

In Irland erzählt man einen Witz, der geht so: Ein Wanderer trifft auf einen Bauern und fragt: „Wie komme ich nach Dublin?“ Sagt der Bauer: „Don’t start from here.“ Unter Soziologen, berichtet der Soziologe Dirk Baecker, erzählt man sich diesen Witz gerne, um den europäischen Transformationsprozess auf den Punkt zu bringen. Schließlich ging es dem Osten 1989 nicht anders, als er hungrig Richtung bunte Lichter drängte. Da schaute der Markt auf die Überreste des eben noch real existierenden Sozialismus und all die Moonwashed-Jeans auf dem Ku’damm und raunte: „So nicht.“ Weil es dem ehemaligen Osten aber kraft seiner Natur nicht vergönnt war, etwas anderes zu sein als der ehemalige Osten und er sich nicht durch Zeit und Raum in die westdeutsche Gegenwart hätte beamen können, war auch das Projekt Vereinigung im Wesentlichen von Anfang an zum Scheitern verurteilt.

„Poker im Osten“ heißt eine Veranstaltungsreihe im Hebbel am Ufer, zu deren Eröffnung am Wochenende eine Podiumsdiskussion gleichen Titels stattfand. Im Verein mit dem Soziologen Wolfgang Engler, SZ-Redakteur Jens Bisky und taz-Redakteur Uwe Rada versuchte Baecker hier den Stand der Dinge im Jahr 15 der deutschen Einheit auszuloten. Wobei „Stand“ das richtige Wort ist: Folgt man Baecker, sind wir seit 15 Jahren vor allem damit beschäftigt, herauszufinden, wie wir unsere Wende-Vorstellungen korrigieren können.

Auch Bisky diagnostizierte wenig praktischen Fortschritt: Der Ostler sei ’89 zum zweiten Mal Objekt eines staatlichen Beglückungsprogramms – nun eben im Zeichen des Kapitalismus – geworden, hätte aber zwischenzeitlich feststellen müssen, dass man ihn dafür nicht brauchte. Eine deutsch-deutsche Annäherung machte allein Engler aus – schließlich sei die Frage „Wie führe ich ein Leben, das mir sozial zu entgleiten droht?“ bald überall beherrschend.

Bis zum 3. Oktober will das HAU versuchen, sich mit zehn Premieren einer Antwort zu nähern. Theoretiker, vor allem aber Regisseure und Theatergruppen wurden beauftragt, die Gründungsmythen der Einheit zu untersuchen und „Monster und Helden des Alltags“ zu beschwören. Plastisch in Szene gesetzt wurde eine solche Beschwörung zum Einstieg von der Performance-Compagnie Cheap. „It Happened to Me – A Revolutionary Horror Ride“ wird seinem Untertitel aufs Schönste gerecht. Die schwarze Kommunistin Angela Davis, Ehrenbürgerin der Stadt Magdeburg, die bei Marcuse studierte und es zeitweilig auf die „Most Wanted“-Liste des FBI schaffte, trifft hier auf die zu Unrecht wenig bekannte Ruth Fischer, Vorgängerin Thälmanns in der KDP, die 1936 in den Moskauer Schauprozessen zum Tode verurteilt wurde und nach ihrer Flucht in die USA 1947 als Hauptzeugin gegen ihren Bruder Hanns Eisler vor dem House of Unamerican Activities aussagte.

Die Frauen sind sich wirklich 1961 einmal in Paris begegnet, doch diese Wirklichkeit interessiert Cheap nicht. Sie setzen ihr Publikum auf die kreisende Drehbühne wie in eine Geisterbahn und bewerfen es mit Nebel, Soundbites und Bildern. Politische Textfragmente werden in Reizwäsche rezitiert, Oralsex verliert sich in krakeelten Songs. „Communists live from the grave!“ präsentiert dieses Cabaret der politisch Untoten, und nach 25 Minuten verlässt man die Bühne wenig geläutert, aber glücklich irritiert.

Fragmente und Versatzstücke bestimmten das Eröffnungswochenende. Eine große Geschichte der Wende wollte niemand auf der Bühne erzählen; stattdessen wurden Ergebnisse breiter künstlerischer Recherchen präsentiert. Manchmal zu breit. Für „Soll:Bruchstelle“ hat Gesine Danckwart Stimmen aus der ostdeutschen Peripherie gesammelt und zu einem langen Text montiert, der weder einen dramaturgischen Bogen noch ein Ende findet. Zitate und Phrasen („Exportweltmeister!“) werden mit poetisch Verdichtetem („Ich hetze durch die Restniederlassungen von dem, was immer noch mein Leben“) zu einem Chor der Frustrierten komponiert. Doch die Sammlung von Bruchstücken erzählt in zwei Stunden nicht mehr als die Zeitungen. Existenzen hinter den Worten werden nur spürbar, wo das Spiel zu Ende ist: Wenn im Video ein alter Arbeiter seine Fassungslosigkeit formuliert. Oder ein Schauspieler spöttisch das Publikum adressiert: „Ich möchte auch gleich die Gelegenheit nutzen, mich für all die Geschenke zu bedanken, die wir aus dem Westen bekommen haben.“

Ein Geschenk aus dem Osten steht im Mittelpunkt von Hans-Werner Kroesingers „Zu treuen Händen“: 8.000 Volkseigene Betriebe wurden 1990 der Treuhandanstalt (THA) unterstellt, die diese zu 85 Prozent an Westdeutsche und 10 Prozent an ausländische Unternehmen veräußerte.

Kroesinger, der stets mit Dokumentarmaterial arbeitet, das er allein durch Schnitt/Gegenschnitt bühnentauglich macht, ist bekannt für trockene politische Lehrstücke. Diesmal aber ist ihm eine Komödie gelungen. Detlef Rohwedder nennt bei Sekt und Schnittchen die Annahme weltfremd, die neuen Länder könnten zum Armenhaus werden, in die Passivität des Mezzogiorno sinken: „Die Menschen in Deutschland sind nicht so.“ Eine Komödie also, der die Tragödie eingeschrieben ist. Und die eine weitere Dimension erfährt, wenn aus Hermann Görings Rede zur Eröffnung jenes Gebäudes zitiert wird, in dem die THA später residierte: „Der deutsche Mensch, insbesondere der deutsche Arbeiter, lebt nicht gern von Almosen.“ Heute sitzt hier das Finanzministerium.

Wie das alles weitergeht? Vielleicht so, wie Cheap das Publikum von der Drehbühne entließ: „Gehen Sie da raus, wo Sie reingekommen sind. Der Eingang ist der Ausgang.“

Alle Termine: siehe taz-plan