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Grenzenlose Gewalt

KULTURCRASH Das fünfte Krass-Festival setzt sich mit Gewalt auseinander. Zum Auftakt macht Regisseur und Festivalleiter Branko Šimić im Stück „Portrait Explosiv“ verschiedene Perspektiven auf Traumata zum Thema

Hat bei den Wiener Festwochen für viel Widerstand gesorgt: Oliver Frljics Stück „Unsere Gewalt und eure Gewalt“ Foto: Oliver Frljic

von Robert Matthies

Warum hat es sie erwischt? Waren es die auffälligen Turnschuhe? Die blonden Haare? Gibt es überhaupt einen Grund, dass gerade Vernesa Berbo im Herbst vor zwei Jahren an einer Berliner Tramhaltestelle Opfer eines gewalttätigen Angriffs geworden ist? Oder hätte es auch jede andere treffen können?

Ein junger Mann, offenbar ein arabischer Kriegsflüchtling, habe sie plötzlich von hinten kommend heftig geschlagen. Ganz überraschend und ohne, dass es vorher auch nur einen Blickkontakt gegeben habe, erzählt sie sichtlich bewegt und um jedes Wort ringend auf einer Videoleinwand. Mit hasserfülltem, gar nicht mehr menschlich wirkendem Blick habe er nach dem Angriff vor ihr gestanden und sie angestarrt, als wolle er sie umbringen. Bis zur Hilfe eilende Bauarbeiter sie vom unbekannten Aggressor wegzerrten. Ein Schock, der für Berbo alles verändert habe, den sie bis heute zu verstehen versuche – und der jeden ihr unbekannten Mann für sie seitdem zum potenziellen Angreifer mache.

So zumindest erzählt es die Schauspielerin in Branko Šimićs Theaterstück „Portrait Explosiv“, mit dem der Regisseur am Donnerstagabend die fünfte Ausgabe des von ihm kuratierten Kultur-Crash-Festivals „Krass“ auf Kampnagel eröffnet hat. Und ob sie den Angriff tatsächlich und tatsächlich so erlebt hat, das ist auch gar nicht wichtig – oder jedenfalls nur eine von vielen Perspektiven auf erlebte Gewalt.

Denn die zu erleiden, ist eine universelle Erfahrung, erst Recht und vor allem für Frauen. Das machen Šimić, Berbo und die drei Tänzerinnen Asja Künster, Gifty Lartey und Romy Mittag, die später ebenfalls von ihren Erlebnissen mit häuslicher und sexualisierter Gewalt erzählen, an diesem Abend immer wieder deutlich: Opfer von Gewalt zu werden, erklärt Mittag in einer ebenfalls wie ein Gewaltakt unvermittelt ins Stück hereinbrechenden, aggressiven Szene im Comedy-Tonfall, ist für Frauen heute das größte Risiko für die Gesundheit.

Schnell wird klar, dass es Šimić vor allem um eine Art Medienkritik geht, dass sich sein Stück gegen das seit den Diskussionen um die Vorfälle in der Silvesternacht 2015/16 in Köln allgegenwärtige Klischee richtet, dass muslimische Männer Frauen gegenüber gewalttätig sind. Stattdessen geht es in Berbos Geschichte um die Wahrnehmung des Erlebten, um die Reflexion der Tat, um das Verstehenwollen dessen, was sich als grundlose Gewalt dem Verstehen absolut entzieht: über die Gewalt als Abgrund, der sich zwischen Menschen auftut.

Denn auch Berbo ist, ebenso wie Regisseur Šimić, in den 1990er-Jahren als Kriegsflüchtling aus Bosnien nach Deutschland gekommen und weiß, dass Krieg traumatisiert, dass Gewalt die Realität eines Menschen radikal verändert, das Leben in eine Zeit davor und danach unterteilt. Um mit dem Erlebten klarzukommen und weiterleben zu können, rationalisiert Berbo das Geschehen aus der Perspektive einer damals selbst Geflüchteten.

Und so spricht Berbo vom Exil wie von einer psychischen Krankheit, von der Notwendigkeit, sich angesichts einer unbekannten Sprache und Kultur erst mal einen Sinn zu basteln. Vom Verloren- und Woanderssein, vom scheiternden Verständnis für den anderen und all den Problemen, die es mit sich bringt, in einer solchen Gemengelage nach Schuld und Verantwortung zu fragen.

Šimić geht es darum, Geschichten aus vielen unterschiedlichen Perspektiven zu erzählen

Vermeintlich einfache Geschichten aus vielen unterschiedlichen Perspektiven zu erzählen, klarzumachen, dass erst das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Perspektiven – ein Kulturcrash, der sich nicht einfach wie leckeres Essen aus fremden Ländern wegkonsumieren lässt – ein angemessen komplexes, aber eben auch unausweichlich offen bleibendes Bild eines sozialen Geschehens liefert, das ist von Beginn an Šimićs zentrales Thema und Motiv seines Festivals gewesen.

Das macht es verzeihlich, dass „Portrait Explosiv“ selbst nicht allzu weit über ein Aufein­andertreffen ästhetischer Einsätze hinausgeht und mitunter unausgereift wirkt. Unklar bleibt etwa, in welchem Verhältnis Berbos Erzählung vom Übergriff und ihrem Ringen um Deutung, die den Kern des Stückes ausmacht, und die immer wieder hereinbrechenden performativen Szenen der drei Tänzerinnen zueinander stehen. Unklar bleibt dabei auch, welche Rolle das Geschlecht in Berbos Geschichte rund um Traumatisierungen tatsächlich spielt, welche Rolle andererseits das Sich-fremd-Werden und -Bleiben in den Szenen spielen, die ausdrücklich Gewalt gegen Frauen thematisieren.

Aber den letzten Schritt zu gehen, das ist ja auch gar nicht Šimićs Ziel. Und einen Schritt voraus, das ist sein Festival so vielen anderen ohnehin. Bis Ende April sind noch eine Reihe spannender Arbeiten zu sehen. Einer der Höhepunkte ist das Stück „Unsere Gewalt und eure Gewalt“ des bosnischen Skandalregisseurs Oliver Frljic. Bei den Wiener Festwochen im vergangenen Jahr sorgte das Stück – eine Paraphrase des Terrors, inspiriert durch Peter Weiss’Romantrilogie „Die Ästhetik des Widerstands“ – schon mal für ordentlich: Widerstand.

„Krass Kultur-Crash-Festival feat. Youngstar“: bis So, 30. 4., Kampnagel

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