Kapitalismus Der Soziologe Erik Olin Wright gibt einen Überblick über reale Utopien: Verschiebungen im Alltag
Der US-Soziologe Erik Olin Wright trägt Ansätze zusammen, die den Kapitalismus überwinden wollen. Dass er dafür den Sammelbegriff „Sozialismus“ gewählt hat, ist nicht besonders klug, weil es zu Missverständnissen einlädt. Er möchte aufzuzeigen, dass es bereits vielfältige Versuche gibt, den Kapitalismus zivilgesellschaftlich zu untergraben. Dabei nimmt Wright nicht an, dass sich das Ziel durch einen Masterplan ansteuern oder auch nur als konkrete Vision beschreiben ließe. Deshalb will er eine Art „sozialistisches Navigationsgerät“ liefern, mit dem sich existierende Beispiele und theoretische Ansätze beurteilen lassen. Ausgerichtet ist der Kompass auf einer Vertiefung der Demokratie durch Partizipation und Egalität.
Das Anliegen des Buches ist begrüßenswert, die Ausführung stellenweise zäh. Auf ermüdenden 150 Seiten analysiert der Autor zunächst die gegenwärtigen Dominanz der Wirtschaft gegenüber der Gesellschaft und die Rolle des Staates. Informierte Zeitgenossen werden hier wenig Neues entdecken. Spannend wird es an Stellen, wo Wright konkrete Beispiele bringt wie Henry Fords Umgang mit einem Konstruktionsfehler des Automodells Pinto. Der Konzern kalkulierte, dass es billiger sei, Schadenersatz für weitere Tote und Verletzte zu zahlen, als die Wagen nachzurüsten – und verzichtete auf eine Rückrufaktion. Was danach kommt, wirkt an vielen Stellen wie ein ausführliches Organigramm der unterschiedlichen Vorgehensweisen, mit denen Alternativbewegungen agieren. Viele Beispiele sind bekannt – von Wikipedia über den Bürgerhaushalt von Porto Alegre bis hin zum baskischen Genossenschaftsverbund Mondragon.
Hinzu kommt, dass das Buch in den USA bereits 2010 erschienen ist, aber erst jetzt ohne Aktualisierung ins Deutsche übersetzt wurde. So sind beispielsweise die Konflikte über die defizitäre Waschmaschinenproduktion in Mondragon nicht enthalten, bei der es heiße Diskussionen über Solidarität und ihre Grenzen gab und an deren Ende die Fabrik dichtgemacht wurde. Was erstaunlicherweise ebenfalls fehlt sind Commons-Ansätze: Immerhin hat Elinor Ostrom bereits 2009 den Wirtschaftsnobelpreis gewonnen für ihre Forschung über funktionierende Gemeingüter.
Wright zeigt auf, dass der Kapitalismus zwar in einer tiefen Krise steckt. Einen radikalen Bruch aber hält er für äußerst unwahrscheinlich. Stattdessen setzt er auf einen kleinteiligen dialektischen Prozess, der zu Verschiebungen im Alltag führt. Dabei trotzen engagierte Menschengruppen nicht nur der Wirtschaft Räume ab, in denen andere Werte gelten als Konkurrenz und Profit. Entscheidend ist auch, wenn Politik und Verwaltung sich als Diener der Bürger verstehen und nicht als deren Lenker – und damit „Demokratie sehr ernst“ nehmen.
Was solche gesellschaftliche Ermächtigung gerade auch in sozialpolitischer Hinsicht leisten kann, belegt die brasilianische Stadt Porto Alegre, die seit einem Vierteljahrhundert ihre Bürger darüber bestimmen lässt, wie die Haushaltsmittel eingesetzt werden. Entgegen allen Vorurteilen zeigt sich, dass ärmere Menschen sich an Partizipationsverfahren sogar überdurchschnittlich beteiligen, wenn es um echte Entscheidungen über praktische Fragen geht. Wo Partizipation dagegen vor allem Symbolpolitik ist, sind wohlsituierte Bürger weitgehend unter sich.
Der Autor plädiert für vielfältige Experimente zur gesellschaftlichen Selbstermächtigung. Die Beteiligten sollten ständig ausloten, wo die Grenzen des Möglichen gerade sind und versuchen, neue Institutionen zu schaffen, die die Grenzen erweitern. „Indem wir das tun, entwerfen wir nicht nur reale Utopien, sondern wir tragen dazu bei, die Utopien real werden zu lassen.“ Annette Jensen
Erik Olin Wright: „Reale Utopien. Wege aus dem Kapitalismus“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017, 530 Seiten, 24 Euro
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