ZEIT.ORTE

René Hamann,geb. 1971, ist freier Mitarbeiter der taz und Autor. Er wohnt in Berlin-Neukölln. Sein Blog „Die Suche nach dem Glam“ ist unter renehamann.blogspot.de einsehbar, wird aber bald geschlossen. Erschienen ist zuletzt ein Gedichtband „Wart und ­Gegenwart“ in der Parasitenpresse, Köln.

Warnung vor dem Bösen
Stück in mehr als 9 Szenen

René Hamann,geb. 1971, ist freier Mitarbeiter der taz und Autor. Er wohnt in Berlin-Neukölln. Sein Blog „Die Suche nach dem Glam“ ist unter renehamann.blogspot.de einsehbar, wird aber bald geschlossen. Erschienen ist zuletzt ein Gedichtband „Wart und ­Gegenwart“ in der Parasitenpresse, Köln.

René Hamann

U 1 Kurfürstendamm–Wittenbergplatz

„Diesmal nicht, tut mir leid, ich bin da gerade in einer anderen Geschichte. Dich hatte ich auch schon.“

„Locker bleiben.“

„Aber danke für die Tanzstunde.“

„Arschloch.“

Sie sprechen in ihre Mobiltelefone wie in Diktiergeräte. Manche halten ihr Handy so, als ob sie es gleich essen wollten. Sie tragen auch wieder Risse in den Hosen, auf Kniehöhe.

„Sitzen Sie auch im Parlament?“

„Nein, ich arbeite in den Büros.“

LINDY HOP

NAFRI COLA

Sie machen ein Bild von sich. Sie lächeln sich selber an.

„Du hast Bilder in deiner Küche hängen?“

„Ja, hochgezogene Nacktbilder von meiner Ex.“

„Playdings, du hast so Playmobilfotos von Autokarossen und so da hängen.“

„Playmobilfotos! Nein, nein, die mit den Kindern bist du.“

„Playmates, mein ich.“

„Ich hab Plakate da hängen. Plakate von Fotoausstellungen. Ein Selbstportrait von Vivian Maier und noch ein anderes, auf dem eine überdimensionierte Bierwerbung am Rand einer amerikanischen Schnellstraße zu sehen ist. Hab vergessen, von wem. Amerikanische Fotografie der fünfziger-, sechziger Jahre.“

Die Anwesenheit einer Abwesenden.

Ich als Projekt.

Die drei Zeiten der Liebe.

„Ich stresse mich voll, alles wegen der Entspannung. Ich hetze zum Yoga, ich komme zu spät zur Physio, ich bin ultranervös, weil ich Angst habe, meinen Termin im Fitnessstudio zu verpassen. Ich weiß nicht, wo das noch hinführen soll.“

„Man soll den tiefen Atempunkt spüren. Den Atem. Den Atem spüren. Die Körperertüchtigungen stehen im Vordergrund.“

„Ich mag diese Leute nicht.“

„Der Atem fließt in die Nasenhöhlen und streicht an den Nasenscheidewänden vorbei in die Stirn …“

„Die Füße dieser Leute.“

„Der Mann hat so eine Meditationskassettenstimme. Unglaublich. Man könnte gleich so einschlafen.“

„100 Jahre probeschlafen.“

„Und ich spürte alles in mir. Ich spürte die ganze Scheiße in mir.“

U 2 Wittenbergplatz–Nollendorfplatz

Dem Mann sitzt eine Frau gegenüber. Sie hat die Beine übereinandergeschlagen. Sie trägt Strumpfhosen. Ihr Knie zeichnet sich ab. Aber dieses Knie meint nicht ihn. Es sieht nur so aus, als sei es ausgestellt. Aber es hat eine normale Position. Es meint nicht ihn. Es meint nicht einmal die Allgemeinheit.

Eine unbesetzte Frau.

Ein erotischer Move, ob es so gemeint war oder nicht.

„Sie sprach von ihrem Schlafzimmer. Sie sprach wirklich von ihrem Schlafzimmer. Ich konnte mir das gar nicht vorstellen.“

„Er ging draußen auf dem Gang auf und ab und telefonierte. Keine Ahnung, mit wem und über was. War zu leise. Ich dachte nur: schade.“

„Sie hatte sich ein neues Bett gekauft. Sie zeigte mir Fotos davon. Ich dachte: alles klar! Ein schönes Bett! Nur fehlt da vielleicht noch was!“

Ihre Finger schimmern bläulich, sie tippt eine SMS.

DATEN SIND MÖRDER.

„Förmlich. Ich gab ihr die Hand. Ich stellte mich vor. So habe ich sie kennengelernt. Hallo, ich bin Soundso. Hallo. Das war alles.“

„Wählen Frauen aus? Ist es die Frau, die auswählt? Hat man immer nur gedacht, die Männer wählen aus? Und es sind in Wahrheit die Frauen? Immer schon. Sie sind in der Position. Sie schauen sich die Bewerber an. Mehr oder weniger genau. Was kann er, was bringt er mit, was ist er für’n Typ. Wenn es dann passt, passt es. Vorerst. Alles andere ist zum Scheitern verurteilt.“

Das Haus der Gefühle. Die Marihuanaschwaden vor den Wettbüros.

RACIAL PROFILING. Ich wohne im kaputten Teil Berlins.

„Sie war besessen. Und noch in der größten Besessenheit absolut egoistisch. Sie stalkte auf die egoistische Art.“

„Stalken ist meistens egoistisch. Um das Objekt geht es dabei am wenigsten. Du meinst, man konnte es mit Ehrgeiz verwechseln. Die Art, Besitzansprüche anzumelden, auf die aggressive Tour.“

„Ich meine, es war völlig egal, was von der Gegenseite gesendet wurde. Darauf wurde nicht im mindesten geachtet. Das meine ich.“

„Ich glaube, das ist das Wesen des Stalkens.“

„Du kannst es nicht sehen. Du bist zu sehr mit deinem eigenen Film beschäftigt.“

„Aber du, du fährst doch auch deinen eigenen Film.“

„Sehr richtig. Ja. Und du könntest eine Rolle darin spielen, eine gute Rolle. Aber nein, geht nicht, weil du den Film nicht sehen kannst. Du siehst ihn einfach nicht.“

„Ich verstehe dich nicht. Niemand sieht den Film, in dem er gerade spielt.“

„Das gilt für die Schauspieler. Aber nicht für den Regisseur. Und schon gar nicht für den Regisseur, der gleichzeitig die Hauptrolle spielt.“

„Ist aber auch ein ziemlicher Egofilm dann.“

„Das sind alle Filme.“

Die Kälte, die aus dem Spion kam.

PERSONAL ESSAY.

„Ich hatte es schon immer mit blinden Egomanen zu tun. Obwohl, blind trifft es nicht, taub trifft es. Taube Egomanen, die in der Hauptsache von sich selbst reden, was sie auch unheimlich gerne tun, und dabei nicht merken, wie wenig Raum und Zeit sie ihrem Gegenüber schenken, die vielleicht mal eine Frage einstreut, um eine Information anzuzapfen, bevor sie wieder weiterreden, und am Ende ihres Lebens werden sie tatsächlich taub, tragen Hörgeräte, die dann aber auch nichts mehr nutzen.“

U 3 Nollendorfplatz–Fehrbelliner Platz

Er löst den Plastikbindfaden einer neuen Schachtel mit den Lippen ab. Der Geschmack von Plastik.

Schnippte eine Zigarette weit von sich, holte schon die nächste aus der Schachtel.

Wie heruntergekommen die Leute oft sind; schlafen auf einfachen Matratzen in irgendwelchen Zimmer­ecken. Ich erinnere mich an das Fräulein, das ich einst begehrte. Das Fräulein schlief in einem Durchgangszimmer. Ich war zu Gast in ihrer Stadt und schlief in der Kammer nebenan, aber auf meine Avancen gab es keine Antwort. Nachts hatte ich überlegt, ihr eine Message zu schreiben, eine SMS durch die Zimmerwand hindurch, aus 5 Meter Entfernung. Eine Frage. Eine unverbindlich klingende Frage, die nichts anderes war als eine Bitte, doch endlich herüberzukommen. Sie schlief auf einer einfachen Matratze im Durchgangszimmer, ich habe sie gesehen. Ich habe sie schlafen sehen, morgens. Sie wollte mich nicht. Sie wollte mich nicht, ich hätte sie gewollt.

Ein altes Kaufhaus: deprimierend. Alles Heruntergekommene: deprimierend. Lichtlosigkeit: deprimierend. Phillipinos auf der „Aida“, Schrubben für einen Hungerlohn, der ihnen hilft, eine fünfköpfige Familie durchzubringen. Katalogfrauen, Nazis. Nazis, die mit Katalogfrauen verheiratet sind. Verwahrlosung. Verwahrloste Welt.

„Manchmal fällt es uns leichter, mit Menschen zu sprechen, die wir nicht kennen.“

Schweißausbruch im Wagon. Draußen gleiten Bahnhöfe vorbei, Bahnhöfe ohne Namen. Bahnhöfe, die man erraten muss.

„Wo sind wir?“

„Ausstieg rechts.“

Er erinnert sich, wie er als Kind die U-Bahn liebte. Die Tunnel, die Geschwindigkeit. Jetzt hält er sie kaum aus.

Ein Obdachloser nicht mit Einkaufswagen oder Hackenporsche, sondern mit einem ausrangierten Rollkoffer. Er hält die Taschenlampe in den Mülleimer. Er leuchtet den Müll aus. Zu mir sagt er: „Ich bin bedürftig, hätten Sie etwas Unterstützung übrig?“ Ich schüttele den Kopf. Er zieht weiter. Den Mann vor mir begrüßt er als Kollegen, als Gleichgesinnten. „Bis später“, sagt er zu ihm zum Schluss. „Obwohl, aus später wird vielleicht nichts“, fügt er hinzu, „denn ich bin heute schwer übelst unterwegs, hehehe.“

„Hehehe“, macht auch der andere.

Er trägt sein neues Hemd mit Stolz. Er hustet kurz ab und raucht dann weiter.↓

U 7 Fehrbelliner Platz–Bayerischer Platz

TELEPIZZA. Clips von Jungeleutemusik.

Die Selbstfeier auf einem Stadionkonzert.

Knutschen im Supermarkt. Rollendes Girl im Einkaufswagen, vom Boy durch die Nacht geschoben.

Die Posen der eigenen Crew, der Homies.

Sängerin flirtet mit Keyboarder.

„Manchmal weiß man nicht, in welcher Stadt man sich befindet. Alles sieht gleich aus. Es könnte die eine oder die andere sein.“

„Von einer Stadt die andere.“

„Ich meine: Glänzt Berlin? Nein, Berlin glänzt nicht. Vielleicht für die Jugend, ja. Obwohl, ich habe da meine Zweifel. Berlin glänzt nämlich überhaupt nicht. Das wird nur irgendwie behauptet. Dass Berlin glänzt. Obwohl, nicht mal das. München leuchtet, Paris glänzt, Berlin ist matt und schäbig. Schmutzig, ranzig, kaputt, ruiniert, unfertig, ranzig und ramponiert, das ist Berlin.“

Ich tappe im Dunkeln. Sprachlich. Als sei ich immer noch dabei, die deutsche Sprache zu lernen. Mit 46. Als Muttersprachler. Zu Hause war früh Schluss mit Sprachentwicklung. Das Niveau meiner Eltern hatte ich spätestens mit zwölf, vielleicht sogar schon mit acht erreicht.

U 4 Bayerischer Platz–Nollendorfplatz

Eine 78-Jährige im Körper einer 25-Jährigen. Sieht man oft heutzutage.

Die Stille in einem Wagon voller miteinander gestikulierender Gehörloser. Call a Dolmetscher, Taubstumme sagt man nicht mehr, sondern: Gebärdensprachler. Gehörlose.

Die Distanzgeminderten.

Die Stille in einem Wagon voller Teenager an einem Werktagmorgen. Teenager, die sprechen können, aber lieber in ihre Telefone vertieft sind.

Der Sicherheitsbeamte von der BVG muss niesen. Er niest in seine Ellenbogenhöhle hinein – eine Geste, die noch neu ist, die man inzwischen aber immer öfter sieht. Ich wünsche ihm Gesundheit. Er bedankt sich und muss noch mal niesen; er sieht irgendwie angeschlagen aus.

„Wie wäre es mit krankfeiern?“, sage ich.

„Nee, nicht während der Probezeit.“

Im Ohr dann „In My Room“. „There is a world where I can go and tell my secrets to.“ In einer langgezogenen Schleife, hier in der U 4, vom Deutschlandradio kommend. Beim Umstieg dann „Club Tropicana“. „Club Tropicana, drinks are free. Fun and sunshine, there’s enough for everyone“

U 2 Nollendorfplatz–Alexanderplatz

„Ihre Eltern. Ihre Eltern haben ihr eine Wohnung gekauft. Und sich selbst eine zweite, im selben Haus. Die eine ­Vorderhaus, die andere Seitenflügel. Sie ist mit ihrem Freund und Kindsvater …“

KINDSVATER.

„…da eingezogen, die hintere Wohnung wurde vorerst vermietet. Der Deal ist, dass ihre Eltern in die hintere Wohnung einziehen, wenn sie nicht mehr so können. Damit sie dort von ihr und ihrer Familie gepflegt werden. Das ist der Deal: Eigentumswohnung gegen Altenpflege.“

U 5 Alexanderplatz–Frankfurter Allee

FUCK YOUR WORK.

Hintergrunddienst. Älterwerden und Elternschaft, Terrorismus und neue Medien.

Wir erzählen Gespenstergeschichten.

„Es scheint mir so, als ob alle einem höheren Auftrag folgen, vom dem aber alle nichts wissen. Als ob wir einem Zeitalter, einer Generation angehörten, die nur dazu da ist, für eine wesentlich spätere Ära zu arbeiten; für ein Paradies, das in vierhundert Jahren einmal realisiert sein könnte.“

„Das war schon immer so. Das war nie anders.“

„Und manchmal kommt es mir vor, als ob ich in einer Erinnerung leben würde. Und ich weiß nicht, ob es meine ist oder die eines Fremden. Alles wirkt, als ob ich es schon einmal erlebt hätte, aber die Wahrheit dahinter ist verschwunden … Ich lebe also in der Vergangenheit, die sich selbst für die Gegenwart hält, aber ihrerseits keine Vergangenheit hat.“

„Klingt kompliziert.“

„Und ich habe alles schon vorher gewusst. Ich habe vieles schon mal gesehen, erlebt, ich ahne auch einiges voraus. Es nutzt mir nur nichts.“

„Was wird denn als nächstes passieren?“

„Wir werden ankommen.“

Fortsetzung möglich