Neuwahlen in Großbritannien

„Wir brauchen Wahlen, und wir brauchen sie jetzt“: Theresa May wittert die Chance auf einen hohen Sieg

May lässt die Katze aus dem Sack

Großbritannien Die Premierministerin ändert überraschend ihre Meinung und setzt vorgezogene Neuwahlen für den 8. Juni an, um sich „ein klares Mandat“ für die Brexit-Verhandlungen mit der EU zu holen

„Yes we cat“, twitterte der Chefmäusefänger von Downing Street 10 kurz nach der Rede einer wichtigen Mitbewohnerin Foto: imago

von Dominic Johnson

BERLIN taz | Es war ein Coup, wie er in der Politik nur selten gelingt. Dass Premierministerin Theresa May eine Erklärung vor ihrem Amtssitz in der Londoner Downing Street abgeben würde, verriet ihr Büro erst eine gute Stunde vorher. Worum es gehen könnte, darüber rätselten selbst die bestvernetzten Beobachter, die alle komplett überrascht waren. Die Internet-Spekulationen reichten von einem Rücktritt aus Gesundheitsgründen bis zu einem Suchaufruf für Theresa Mays Hauskatze. Der Ghostwriter von Exregierungschef David Cameron glaubte zu wissen, Neuwahlen seien ausgeschlossen.

Und dann sprach May auch noch zehn Minuten früher als veranschlagt und war vor dem angesetzten Zeitpunkt fertig. Die Premierministerin kam direkt zum Punkt.

„Ich habe gerade eine Kabinettssitzung geleitet, auf der wir uns einig waren, dass die Regierung Wahlen für den 8. Juni ansetzen sollte“, hob sie an. Sie setzte mit Eigenlob fort: Seit sie Premierministerin wurde – als Nachfolgerin Camerons, der zurücktrat, nachdem die Briten am 23. Juni 2016 für den Brexit stimmten –, habe sie dem Land „Sicherheit, Stabilität und starke Führung“ gegeben. „Wir haben auch das uns übergebene Mandat umgesetzt: Großbritannien verlässt die Europäische Union, und es kann keinen Weg zurück geben.“

Aber es sei notwendig, in dieser für das Land kritischen Zeit politisch zusammenzuhalten, und das sei derzeit nicht der Fall. „Labour hat gedroht, gegen unser Abschlussabkommen mit der Europäischen Union zu stimmen; die Liberaldemokraten haben gesagt, dass sie den Regierungsapparat lahmlegen wollen; die schottische Nationalpartei sagt, sie wird gegen die Gesetzgebung stimmen, die Großbritanniens EU-Mitgliedschaft förmlich kündigt; und ungewählte Mitglieder des Oberhauses haben geschworen, uns Schritt für Schritt zu bekämpfen“, wetterte May unvermittelt, ganz Wahlkämpferin.

„Unsere Gegner glauben, dass unsere Entschlossenheit schwächer werden wird und sie uns zum Kurswechsel zwingen können, weil die Mehrheit der Regierung so klein ist. Sie irren sich. Sie unterschätzen unsere Zielstrebigkeit.“ Wenn britische Politiker nicht an einem Strang zögen, werde dies Großbritanniens Position gegenüber der EU schwächen, so May: „Also brauchen wir Wahlen, und wir brauchen sie jetzt.“ Finanzminister Philip Hammond präzisierte später im Parlament, es gehe um „ein klares Mandat“ für Mays Brexit-Pläne, einschließlich der nötigen Übergangszeiten nach Ende der zweijährigen Verhandlungsfrist, die mit dem britischen Brexit-Antrag vom 29. März begann und damit 2019 endet.

Wirklich überraschend kommt das nicht. Die Regierungschefin, die ihr Amt im Juli 2016 ohne Wahlen von David Cameron übernahm, brauche dringend ein eigenes Mandat, schrieben zuletzt zahlreiche Kommentatoren – auch solche, die May wohlgesinnt sind. Sie müsse die Chance dazu ergreifen, solange die Labour-Opposition schwach und zerstritten sei, und sich schnell eine hohe Parlamentsmehrheit sichern.

Momentan halten die Konservativen 330 der 650 Sitze im Unterhaus, nachdem sie bei den Wahlen 2015 Labour mit 36 gegen 30 Prozent schlugen. Die aktuellen Umfragen sehen die Tories bei durchschnittlich 42 Prozent und Labour bei 26, was im britischen Mehrheitswahlrecht eine Mehrheit von bis zu 200 Sitzen bescheren könnte.

„Sie unterschätzen unsere Zielstrebigkeit“

Theresa May

Fünfmal hat May als Premierministerin dieses Ansinnen als taktische Spielerei abgelehnt: Die Legislaturperiode laufe nun einmal bis 2020, und daran sei nicht zu rütteln. Sie pflegt das Bild einer prinzipientreuen Politikerin. Aber jetzt habe sie ihre Meinung „widerwillig“ geändert, sagte sie in ihrer Erklärung. In einem Fernsehinterview führte sie aus, sie sei während ihres fünftägigen Wanderurlaubs mit ihrem Ehemann in Wales über die Ostertage zu ihrem Entschluss gekommen.

Seit dem Fixed Parliaments Act von 2011, den der damalige Premierminister David Cameron als Garantie für die Beständigkeit seiner Koalition mit den Liberalen einbrachte, kann ein britischer Regierungschef aber nicht einseitig Neuwahlen ausrufen. Nötig ist eine Zweidrittelmehrheit im Parlament.

Das Unterhaus wird darüber bereits am Mittwoch abstimmen. Keine im Parlament vertretene Partei hat sich gegen die Neuwahlen ausgesprochen. Gut möglich also, dass die Parlamentarier einstimmig die Selbstauf­lösung billigen. Dann beginnen sechs Wochen politische Hektik.

Labour Party
: Corbyn macht mit, aber eher chancenlos

Wenn die Umfragen stimmen, braucht die Labour Party bei den Parlamentswahlen am 8. Juni gar nicht erst anzutreten. Die Partei liegt in Umfragen zuweilen über 20 Prozent hinter Theresa Mays Tories; selbst bei der für Labour positivsten Umfrage des Observer beträgt der Rückstand 9 Prozent. Labour-Chef Jeremy Corbyn hat dennoch angekündigt, dass seine Partei heute im Parlament für die vorgezogenen Neuwahlen stimmen wird, sodass die nötige Zweidrittelmehrheit gesichert ist. „Labour wird dem Land eine effektive Alternative zur Tory-Regierung anbieten“, sagte er. Seine persönlichen Umfragewerte sind allerdings noch schlechter als die seiner Partei. Nur 14 Prozent sind mit seiner Arbeit zufrieden. Bei May sind es 50 Prozent. RaSo

Scottish National Party
: Sturgeon sucht den schottischen Vorteil

Für die Scottish National Party (SNP) sind die Neuwahlen eine zweischneidige Angelegenheit. Einerseits könnten die Bestrebungen für ein zweites Unabhängigkeitsreferendum gestärkt werden. Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon sagte bereits, mit den Wahlen wolle die britische Premierministerin Theresa May die Labour Party in England zerstören – was Schottland betreffe, sei ihre Taktik aber eine Fehlkalkulation: Die Schotten müssten nun erst recht für die Unabhängigkeit stimmen. Andererseits bergen die Wahlen auch ein Risiko für die SNP. Sie muss an ihr Ergebnis von 2015 anknüpfen, als sie 56 der 59 Unterhaussitze in Schottland gewann. Gelingt das nicht, werden die Oppositionsparteien das als Votum gegen die Unabhängigkeit auslegen. RaSo

Liberal Democrats
: Farron kämpft gegen den „harten Brexit“

Die Liberaldemokraten freuen sich am meisten. Bei den Wahlen 2015 haben sie sie fast alle ihre Parlamentssitze verloren, doch seit dem Brexit-Referendum erleben sie einen Höhenflug, da sie als einzige große britische Partei klar als Brexit-Gegner auftreten. Damit nahmen sie den Tories im Dezember den als sicher geltenden Londoner Wahlkreis Richmond Park ab, am 4. Mai wollen sie den Erfolg in der Labour-Hochburg Manchester Gorton wiederholen. In der Stunde nach Mays Wahlankündigung gingen 1.000 neue Mitgliedsanträge ein, behaupten sie. Wahlsieger werden sie nicht, aber Parteichef Tim Farron sagte, die Neuwahlen böten die Chance, die absolute Mehrheit der Tories zu kippen und damit einen „harten Brexit“ zu vermeiden. D.J.

Conservative Party
: May hofft auf Befreiungsschlag

Die Konservativen, auch „Tories“ genannt, können bei der Neuwahl auf einen Befreiungsschlag hoffen. In den Umfragen liegen sie bei über 40 Prozent, und wenn das so bleibt, wird die absolute Mehrheit der Regierungspartei von derzeit 16 Sitzen im Unterhaus auf weit über 100 in die Höhe schnellen. Damit wären Brexit-Abweichler neutralisiert. Vorher muss Theresa May ihre Partei voller Egoisten aber auch im Wahlkampf zusammenhalten. Zwar steht Expremier David Cameron hinter ihr, aber dessen einstiger Finanzminister George Osborne, neuerdings Chefredakteur von Londons mächtiger Abendzeitung Evening Standard, nicht. Auch dass Boris Johnson nun endlich wieder Wahlkampf machen darf, ist nicht unbedingt zu Mays Vorteil. D.J.

UK Independence Party
: Nuttall steht vorm Scherbenhaufen

Für keine Partei kommen die vorgezogenen Neuwahlen ungelegener als für die EU-Gegnerpartei Ukip. Nachdem Großbritannien den Brexit nun vollzieht, suchen die Rechtspopulisten eine neue Daseinsberechtigung. Ihr neuer Parteichef Paul Nuttall, der nach einer Zeit der Wirren das Ruder von Nigel Farage übernahm, überzeugt bisher nicht, und seine Strategie, um Labour-Wähler zu werben, geht bislang nicht auf. Viele Aktivisten kehren ihm den Rücken, der einzige Unterhausabgeordnete der Partei ist ausgetreten und bei den Kommunalwahlen am 4. Mai tritt Ukip für über die Hälfte der Sitze gar nicht erst an. Mays Neuwahlentscheidung bezeichnet Nuttall als „zynisch“, um sie in derselben Erklärung zu begrüßen – als „perfekte Gelegenheit“. D.J.