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Vielstimmig „Das weiße Leintuch“, der große moderne Roman des litauischen Autors Antanas Škėma, entstand zwischen 1952 und 1954 im New Yorker ExilDie angespannten Muskeln des Fanatikers

von Jochen Schimmang

Hinten im Buch, nach den Anmerkungen der Übersetzerin, gibt es ein ganzseitiges Foto des Autors, auf­genommen im Jahr 1951 in New York von keinem Geringeren als Jonas Mekas. Es zeigt eine Mischung aus Landstreicher und Dandy, wobei der Dandy überwiegt. Hut, Mantel, weite Hosen, die Beine ­übereinandergeschlagen, die Zigarette in der rechten Hand. Es gibt ein sehr ähnliches Foto von Albert Camus aus demselben Jahrzehnt, im feinen Anzug auf einer Treppe sitzend.

Die Korrespondenz ist kein Zufall. Antanas Škėma, geboren 1910 in Łodź, wo sein Vater als Lehrer arbeitete, und ums Leben gekommen 1961 in Pennsylvania bei einem Autounfall, gilt als der Vertreter der modernen, das heißt nicht nationalromantischen Literatur Litauens in der Nachkriegszeit. Er war vom französischen Existenzialismus ebenso beeinflusst wie von den Romantechniken der klassischen Moderne.

Nun ist „Litauen“ buchstäblich ein beweglicher Begriff, auch auf der Landkarte. Die Geschichte dieses Landes ist so eng mit der der unmittelbaren Nachbarländer verbunden wie kaum eine andere, auch in dem Sinne, dass das Land oder Teile des Landes vorübergehend zu diesen Nachbarländern gehörten und keine eigene staatliche Existenz gehabt haben. Im Gegensatz zu den beiden anderen baltischen Staaten war Litauen, insbesondere seine Oberschicht, stark an Polen und damit auch am polnischen Katholizismus orientiert. Auch Škėma selbst kommt mütterlicherseits aus einer Familie mit dieser Orientierung.

Lift, mythisch überhöht

Sein deutlich autobiografisch geprägter Roman erzählt die Geschichte des Schriftstellers Antanas Garšva, der im New Yorker Exil als Liftboy in einem Luxushotel arbeitet. Wie sein Schöpfer ist Garšva nach der Okkupation seines Landes durch die Sowjets zunächst nach Deutschland geflohen, wo er einige Zeit in einem Camp für Displaced Persons zubrachte, und danach in die USA gegangen, wo er sich nun mit diesem Job durchschlägt. Sein Arbeitsort und sein Arbeitswerkzeug, der Lift, bilden den Rahmen, der die disparaten Elemente dieses Romans zusammenhält. Der Lift wird mythisch überhöht: „Up and down, up and down in einem streng eingegrenzten Raum. Sisyphos, von neuen Göttern an diesen Ort versetzt. Diese Götter sind humaner. Der Stein hat die Erdanziehung verloren. Sisyphos braucht keine geäderten Muskeln mehr.“

Ob man sich ihn als einen glücklichen Menschen vorstellen muss, steht allerdings auf einem anderen Blatt. Denn die Geschichte wird durch die litauischen Verhältnisse bestimmt, die Gegenwart durch sein Verhältnis zu einer verheirateten Frau und durch die Tatsache, dass er anscheinend todkrank ist, auch wenn er es immer wieder aufschiebt, ein zweites Mal zum Arzt zu gehen und sich seine Diagnose abzuholen.

Alle Register Antanas Škėma kann ironisch und sarkastisch sein, aber auch existenzialistisch-ernst und sogar sentimental

Es ist aber primär nicht die Geschichte, die uns fesselt, auch wenn sie für das litauische Exil einer bestimmten Boheme in den USA in der Nachkriegszeit – zu der auch Jonas Mekas gehörte – vermutlich so exemplarisch Zeugnis ablegt wie kein anderer Roman. Das allein ist es nicht, was seinen fortdauernden Einfluss auf die litauische Literatur bis heute erklärt. Es sind die sprachlichen und formalen Mittel. Mit anderen Worten, es geht nicht um Litauen, welche Leiden dieses Land auch immer durchzumachen gehabt hat, es geht um Literatur.

Škėma setzt das gesamte In­strumentarium des modernen Romans ein und alle Stimmungslagen dazu. Er benutzt (Pseudo-)Dokumentarisches,nämlich die Aufzeichnungen seines Helden zu seiner Kindheit und Jugend, ebenso wie Gedichte und (Volks-)Lieder. Er ruft mit gelungenen Bildern den Rhythmus des New York der fünfziger Jahre auf und mit geschickt arrangierten Episoden die Provinzialität und Miefigkeit des Litauens der Zwischenkriegszeit. „Die Autobahn machte einen Bogen und hängte sich an die Wohnviertel von Millionären. Fred Astaires Tanzschule rauschte vorüber, puritanisch gepflegte Parks, Villen im Kolonialstil, ein, zwei Cadillacs, nicht in Garagen geschoben, und mit einem letzten Aufleuchten verschwand eine rote Reklametafel von Shell.“

Škėma kann ironisch und sarkastisch sein, aber auch existenzialistisch-ernst und sogar sentimental. Dieser Roman ist keine einfach nachzusingende Melodie, sondern eine sehr vielstimmige Symphonie – eine Vielstimmigkeit jedoch, der man sehr gern folgt.

Es gibt da zum Beispiel die schon beinahe klassisch zu nennende Episode des halbherzigen Selbstmordversuchs in der Jugendzeit, heftig inspiriert durch die Lektüre Schopenhauers und seiner Verneinung des Willens. Nachdem der junge Garšva im letzten Moment doch davon abgesehen hat, sich im Wald aufzuhängen, heißt es: „In seinem Zimmer im Volkshaus rubbelte er sich lange die feuchten Füße mit einem Handtuch ab, und später, als er unter die Bettdecke geschlüpft war, hielt er in einer Hand einen Feuilletonband von Pivošas und in der anderen – ein langes Stück Krakauer Wurst. Es war gemütlich.“

So gemütlich ist es naturgemäß nicht immer, vielmehr tun sich in den Erinnerungen des Protagonisten regelmäßig Abgründe auf. Es sind die Abgründe der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. „Das Schicksal hatte aus mir einen Leichenbeschauer gemacht“, heißt es an einer Stelle. „Ich bin in den unterschiedlichsten Situationen auf Leichen gestoßen.“ Und dann folgt eine Aufzählung von Scheußlichkeiten.

Dichter als Florettfechter

Versteht sich, dass Škėma deshalb literarisch nicht den Weg gehen konnte, den andere litauische Autoren zu gehen versuchten: die Schaffung einer nationalromantischen, schönen litauischen Literatur. In einer zentralen Szene des Romans gibt es eine lange Auseinandersetzung zwischen Garšva und dem Dichter Vaidilionis, die sich nach dem Krieg in einem DP-Camp in Deutschland begegnen. Dazu muss man wissen, „dass von den insgesamt etwa 100.000 aus ihrer Heimat geflohenen Litauern etwa 58.000 Personen in DP Camps auf deutschem Boden gelebt haben. Unter ihnen war der größte Teil der politischen und kulturellen Elite des Landes“, schreibt Claudia Sinnig in ihren Anmerkungen. Weiter ist dort zu lesen, man könne sagen, „dass etwa von 1945 bis 1949 Westdeutschland Standort und Schauplatz der litauischen Kultur gewesen ist“. Auch Mekas und Škėma sind sich in einem solchen Camp erstmals begegnet.

Im Roman ist die Auseinandersetzung mit dem schöne Naturgedichte schreibenden Vaidilionis äußerst erfolgreich, und für Škėmas Protagonisten und Alter Ego Garšva ist es auch eine mit Vergangenheit und Zukunft. Garšva führt sie nicht verbissen, sondern eher wie ein Florettfechter oder ein asiatischer Selbstverteidigungskünstler, im Kontrast zu seinem Gegenüber, das vor tiefem Ernst trieft. Das gebiert einen der schönsten Sätze in diesem an gelungenen Bildern nicht armen Buch: „‚Fanatiker und ihre Anhänger haben angespannte Muskeln und Seelen‘, dachte ich.“

Erstaunlich, wie wenig angestaubt dieser Roman heute wirkt, der zwischen 1952 und 1954 entstand und erstmals 1958 in einem Londoner Exilverlag publiziert wurde. Da sich die Schrecken des 20. Jahrhunderts im einundzwanzigsten perpetuieren, hat das Lebensgefühl, das aus ihm spricht, an Berechtigung nichts verloren. Dass das so deutlich wird, liegt an der Übersetzung von Claudia Sinnig. Der Autor hat damals alle Register gezogen und eine Vielstimmigkeit geschaffen, die hier und da durchaus an den „Ulysses“ erinnert. Seine Übersetzerin hat es ihm gleichgetan.

Antanas Škėma: „Das weiße Leintuch“. Aus dem Litauischen von Claudia Sinnig. Guggolz Verlag, Berlin 2017, 255 S., 21 Euro

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