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Retrospektive im Kino ArsenalZu Bildern des Lebens befreit

Phänomenal ist die Vielfalt der Formen und Stile im Werk des portugiesischen Regisseurs Manoel de Ol­iveira. Das Arsenal widmet ihm eine Werkschau.

„Aniki Bóbó“ (Manoel de Oliveira, Portugal 1942) Foto: Arsenal – Institut für Film und Videokunst

Irgendwann, als er über hundert Jahre alt war und Jahr für Jahr mit sich sogar immer weiter steigernder Frequenz Filme drehte und neue Projekte ankündigte, musste er einem dann doch unsterblich vorkommen: Manoel de Oliveira, der 1908 geborene portugiesische Regisseur, der als letzter noch die Brücke zur Stummfilmzeit schlug.

Von 1931 bis 2015 erstreckt sich dieses einzigartige Werk, das mit dem stummen dokumentarischen Kurzfilm „Douro, Faina Fluvial“ seinen Ausgang nimmt. Man sieht den Fluss Douro, die Menschen, die an ihm, von ihm leben, an ihm arbeiten.

Es war Manoel de Oliveiras Fluss, es ist seine Stadt, Porto, die der Fluss durchquert, die Stadt, in der er aufwuchs und in die Oliveira auch mit seinen Filmen wieder und wieder zurückkehrt. Zu Anfang des neuen Jahrtausends dreht er einen Erinnerungsfilm, „Das Porto meiner Kindheit“, man sieht das Haus auf einem Foto als Ruine, in dem er seine Kindheit verbrachte.

Er rezitiert, er singt, er tritt selbst auf in diesem Film, jung geschminkt, schöne Beschwörung einer vergangenen Zeit, aber auch das Festhalten einer Erinnerung, die dennoch vergeht, wenn der stirbt, der sie als Einziger noch besitzt.

Die Retrospektive

Manoel de Oliveira: 8.–30. 4., Kino Arsenal, Potsdamer Straße 2, www.arsenal-berlin.de

Phänomenal ist die Vielfalt der Formen und Stile in de Ol­iveiras Werk. „Aniki Bobo“ etwa, der erste Spielfilm von 1942, ist eine Vorwegnahme dessen, was in Italien dann das Etikett Neorealismus bekam. Draußen gedreht, eine Geschichte von Kindern, die ganz normale Abenteuer des Alltags erleben, auf Wegen, Feldern, am Hang, einer stürzt und stirbt fast, einer fällt immer wieder, weil er ungeschickt ist, zwei verlieben sich, der Lehrer ist streng, der Mann im Laden zeigt hinter der rauen Schale bald einen sehr weichen Kern.

Ein Meisterwerk der Bewegung, des impulsiven Moments, des Voranstürzens und Innehaltens, eine Geschichte, die nicht des künstlichen Zusammenhalts eines Plots bedarf, sondern sich in viele Richtungen zu Bildern des Lebens in der Kindheit befreit.

Nur konnte de Oliveira auch ganz anders. Für Künstlichkeiten aller Art ist er sogar berühmter. Da ist „Acto da Primavera“: Anfang der sechziger Jahre stößt Oliveira bei Arbeiten an einem anderen Film auf das abgelegene nordportugiesische Dorf Curalha. Alljährlich führen dessen Bewohner die Passion Christi auf, nach einem Versdrama aus dem 17. Jahrhundert. Nicht für Publikum, sondern für sich.

Manoel de Oliveira hat auch großartig verwunschene Filme gemacht

Oliveira ist so beeindruckt, dass er die Bewohner bittet, das Stück für seine Kamera zu spielen. Es gibt keine Bühne, die Szenen sind verstreut über Landschaft und Dorf. Römer in Uniformen rennen über staubige Feldwege. Die Leute sind in Fantasiekostüme gekleidet, sie sprechen den Text in alles andere als einheitlichem, aber durchweg eigentümlichem Singsang.

Ein Oberammergau der anderen Art, das Oliveira am Schluss mit Vehemenz in seiner Gegenwart situiert: In Schwarzweiß werden Jesus Christus und Szenen des Kriegs in Vietnam, Bilder vom Atombombenabwurf gegeneinander geschnitten.

Das Theater ist wichtig für Oliveira, theatral sind oder werden seine Filme in mancher Hinsicht. „Mon cas“ von 1986, in Frankreich gedreht, zeigt auf einer Bühne dreimal dasselbe, aber jeweils ganz anders, mit Beckett, Hiob, in sehr artifizieller Kulisse.

In „Je rentre à la maison“ (2001) steht ein von Michel Piccoli gespielter alter Theaterschauspieler im Zentrum, der in der Garderobe eine Todesnachricht erhält: Seine Frau, sein Sohn sind gestorben. Er macht erst einmal weiter, gerät an John Malkovich, der James Joyce’ „Ulysses“ verfilmen will – und plötzlich reicht es dem Schauspieler doch. Michel Piccoli auf der Straße, verwirrt, aus der Welt gefallen, auf dem Weg in ein Zuhause, das er nicht mehr finden wird, das ist ein unvergessliches Bild.

Manoel de Oliveira aber hat weitergemacht und noch eine ganze Reihe großartig verwunschener Filme gemacht. Einer schöner als der andere, „Der seltsame Fall der Angelica“ von 2010 der schönste von ihnen: Er zeigt und erzählt, wie eine Tote erwacht und einen Fotografen aufs Wundersamste berührt. Den Film hat der Regisseur nach einem sechzig Jahre alten eigenen Drehbuch gedreht – fast, als spielte die Zeit keine Rolle mehr. Dass Manoel de Oliveira 2015 dann doch gestorben sein soll, kann eigentlich nicht sein.

Dieser Text erscheint im taz.plan. Mehr Kultur für Berlin und Brandenburg immer Donnerstags in der Printausgabe der taz

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