SELBSTVERSORGUNG
: Marmelade kochen

Frustriert lasse ich das Obstregal Obstregal sein

Hannah hat in irgendeiner dieser neuen Zeitschriften, die aus einer Großstadtredaktion heraus das Landleben feiern, ein ausgeklügeltes Marmeladenrezept entdeckt. Es muss sie die ganze Nacht über beschäftigt haben, denn früh am Morgen tritt sie mich mehr oder weniger sanft in die Seite und sagt im Halbschlaf, hätten wir Brombeeren, könnten wir eine „Herbstsymphonie“ komponieren.

Ich drehe mich um. Sie auch, aber wesentlich eleganter. Und beide versinken wir schweratmend wieder in den Schlaf. Zwei Stunden später stehe ich in der Küche. Der Kaffee läuft durch. Die Sonne schafft es gerade noch über die Dächer, fällt schräg und blendend in unsere Wohnung.

Eingewickelt in Wollrock und Stulpen schlüpft Hannah in die Küche. Du, sagt sie, ich will heute Marmelade kochen. Es fehlen nur noch ein paar Zutaten. Gehst du los? Ich blicke sie etwas überrascht an. Dann sagt sie, ey, ich hab noch was gut bei dir, oder hast du diese Woche gesaugt oder das Bad geputzt?

Hannahs Einkaufsliste ist lang, Quitten und Birnen oder Brombeeren und Holunder, Ananas, Mango und Ingwer. Vier Stockwerke tiefer stehe ich vor dem Haus und blinzle immer noch benommen in die Sonne. Scheiße, es ist Sonntag und der einzige Ort, der auf der Roten Insel aufhat, ist der Supermarkt am Südkreuz. Ananas, Mango: kein Problem, aber Brombeeren und Holunder sind nicht mehr im Sortiment, die Birnen hart. Frustriert lasse ich das Obstregal Obstregal sein und genehmige mir einen Piccolo. Wenigstens das haben sie hier. Dann stapfe ich nach draußen. Und siehe: In, um und um die S-Bahn herum gibt es Holunder, Hagebutten, Brombeeren (Hopfen, Stechapfel, Brennnesseln, Löwenzahn und Mangold – auch wenn dies nicht gefragt war) noch und nöcher. Ich kehre nach Hause zurück, unter den Armen Wildgepflücktes. Hannah strahlt und heizt die Töpfe an. TIMO BERGER