Auf Seite 17 fehlt ein Komma

Liebling der Massen Uli Hannemann hat die taz besucht. Und einen Text draus gemacht. Der ist nun Teil seines frischen Buches „Wunschnachbar Traumfrau“. Eine Leseprobe

Uli Hannemann hat mal wieder ein neues Buch gemacht. Eine Geschichtensammlung, „Wunschnachbar Traumfrau“ heißt sie Foto: David Oliveira

von Uli Hannemann

Eine taz-Mitarbeiterin ruft an. Die kenne ich noch gar nicht. Sie fragt, ob ich am folgenden Montag die Blattkritik für die Wochenendausgabe übernehmen wolle. Mit allem, was dazugehört: die ganze Ausgabe lesen.Mir Gedanken darüber machen. Notizen zu den Gedanken. Gedanken zu den Notizen. Zur taz fahren. Vor circa fünfzehn Mitarbeitern referieren. Über die Gedanken, die Notizen zu den Gedanken und die Gedanken zu den Notizen. Diskutieren. Das sei ein fester Termin bei ihnen, da werde jede Woche ein Außenstehender eingeladen.

Und diesmal soll ich das machen. Nur für die Ehre. Offenbar wissen sie, dass ich so wenig davon habe, dass ich noch welche brauche. Nach Geld frage ich jedenfalls gar nicht. Die Logik ist ohnehin klar: Für einen Text bekomme ich in der Regel einen Heller, folglich für keinen Text keinen.

Sie präzisiert den Begriff „Außenstehende“: „Meist laden wir dazu Journalisten ein oder Leute, die wir richtig gut finden.“

„Ach so. Ich weiß ja, dass ihr mich richtig gut findet“, simuliere ich scherzhaft Selbstbewusstsein.

Sie geht zum Schein da­rauf ein und erwähnt einen Schwimmbadtext von mir, der ihr gut gefallen habe. An einen Schwimmbadtext erinnere ich mich nicht. Das war bestimmt einer dieser Schlaumeier, die hier immer den ganzen coolen und kritischen Stuff zu Papier bringen. Aber ich schmücke mich gern mit fremden Federn. „Ja, der Schwimmbadtext“, sage ich. „Hihi. Ein feines Stück.“

Weil ich mich geschmeichelt fühle und außerdem dringend aufs Klo muss, sage ich schnell zu.

„Ich freue mich“, sagt sie.

Uli Hannemann, geboren 1965, seit 1985 Berliner, seit 1992 Neuköllner, langjähriger Taxifahrer, Lesebühnler und nicht zuletzt natürlich der Liebling der Massen, der mit „Wunschnachbar Traumfrau“ ein neues Buch vorgelegt hat.

Erschienen ist das Buch im Verlag Voland & Quist, es hat 160 Seiten, kostet 14 Euro und versammelt vor allem Texte Hannemanns, die er wie die „Liebling der Massen“-Kolumnen für die taz geschrieben hat. Auch der nebenstehende Text findet sich unter dem Titel „In der Höhle des Möwen“ in dem Buch; am Sonntag wird es um 20.30 Uhr in der Yuma Bar, Weserstraße 14, vorgestellt. Der Eintritt ist frei.

„Du dich auch“, sage ich.

Ich lege auf und bekomme auf der Stelle Angst. Ein Vortrag. Eigene Gedanken, Meinung, Haltung, Argumente. Sprechen. Wenn ich sprechen könnte, würde ich doch nicht schreiben. Schließlich wäre Sprechen vom Grundaufwand her viel leichter. Ogottogottogott.

Weil ich mich das am Ende ganz bestimmt nicht trauen werde, male ich mir wenigstens aus, wie ich am Montag auftreten könnte. Wie ich, noch bevor ich mich setze, die dicke Wochenendausgabe aus der Jackentasche ziehe und wie einen Fehdehandschuh auf den Tisch klatsche. Wie ich mit den Fingerknöcheln der geballten Faust draufschlage und energisch Dinge sage wie „Herrschaften: Was habt ihr euch eigentlich dabei gedacht?“ oder „Freunde: So geht das nicht!“ Vor dem Spiegel übe ich das dazugehörige Gesicht.

Vor Aufregung kann ich drei Nächte lang nicht schlafen, dann ist der Montag da. Im taz-Gebäude an der Rudi-DutschkeStraße werde ich auf den Dachboden geführt, wo mir in der Mehrzahl völlig unbekannte junge Mitarbeiter auf mich warten. Das macht mir Mut, die haben noch nicht jahrelang Hass gegen mich aufgebaut. Also lege ich tatsächlich los. Auf Seite 17 fehlt ein Komma. Auf Seite 50 ist ein kleiner Fettfleck. Kann sein, das ich den selber draufgemacht habe, aber das ist egal. Man hätte die Zeitung auch imprägnieren können, wenn man sich nur ein bisschen Mühe gegeben und an den Leser gedacht hätte. Frühstückssituation und so. Das ist doch der Klassiker. Aber nein, der Leser ist ja offenbar die Melkkuh der Nation. Mit dem Trottel kann man es ja machen. Meine Stimme wird schneidend, ich rede mich zunehmend in Rage.

Sie versuchen, ein gefasstes Gesicht zu machen. Immerhin haben sie mich eingeladen. Wenn eine Seite schön gestaltet ist, sage ich, dass das „komplett an mir vorbeirauscht, weil ich jetzt echt nicht so ’n super ausgebildetes ästhetisches Empfinden“ hätte. Wenn ein Artikel klug geschrieben ist, sage ich, dass ich „nun nicht gerade so der Megaintellektuelle“ wäre. Eine Sau kritisiert die Perlen. Das müssen sie spätestens jetzt gemerkt haben, nicht zuletzt an meiner sich in maßloser Wut überschlagenden Stimme.

Der Leser ist ja die Melkkuh der Nation. Mit dem Trottel kann man es ja machen

Sie bleiben trotzdem freundlich, während ich mir auf einmal denke, dass sie jetzt bestimmt traurig sind. Diese jungen Menschen haben nach bestem Wissen und Gewissen im Schweiße ihres Angesichts und unter unsäglichen Entbehrungen diese im Grunde großartige Zeitung gebastelt. Ihr Herz liegt zwischen den Zeilen vergraben, ihr Hirn und ihre Seele. Ihr Leben. Und was mache ich? Darauf herumtrampeln. Dabei müsste ­gerade ich es doch viel besser wissen.

Damals. Ich bin ein kleiner Junge. Winzig geradezu. Mit Buntstiften habe ich meiner Stiefmutter ein Bild gemalt: Da oben links die Sonne. Da unten ein Wurm. Der Wurm ist bunt und trägt einen lustigen Hut. Oben rechts Vögel, die sind einfacher, das sind nur so Vau-Buchstaben. Bäume, ganz viele Blätter, grün, sehr anstrengend. Den Elefanten muss ich mit Bleistift stundenlang schraffieren. Ich brauche drei Tage für das Bild. Stolz zeige ich es der Stiefmutter.

Sie schreit mich an. „Ein Wurm trägt keinen verdammten fucking Hut!! Du dämliches Dreckschwein! Du Pestratte! Du Pfuscher! Du Nichts!“ Sie tritt mir mit ihren Wanderstiefeln, an denen auch im Sommer stets Steigeisen befestigt sind, ins Gesicht. Zerreißt das Bild, zündet die Fetzen an und scheißt, kotzt und eitert dann ein Hakenkreuz auf die Asche. Ich bin starr vor Schreck. Auch die Enttäuschung ist groß. Sie brüllt, Rauchwolken steigen aus ihrem Mund, sie lässt auf meinem Popo die Maultierpeitsche tanzen. Als mein Stiefvater nach Hause kommt und die Stiefmutter ihm keifend Bericht erstattet, zerrt er mich nur wortlos zum Stieffenster und wirft mich hinaus. Zum Glück Erdgeschoss. Wir wohnten übrigens in Prag.

Das war wohl der Tag, an dem ich mein ästhetisches Gefühl und meinen intellektuellen Anspruch ein für alle Mal zu Grabe trug. Ich sollte mich eigentlich hüten, andere Menschen ganz genauso zu entmutigen. Doch jetzt ist es zu spät.