Berliner Szenen
: In der Sauna

Zählen bis 100

Hätte mein Fleisch auch die Konsistenz der Lammkeule?

Ich zähle jetzt noch bis 100, und dann gehe ich raus aus der finnischen Sauna. Leider funktioniert das mit dem Zählen nicht mehr so gut, weil ich im Liegen langsam wegdämmere. 1, 2, 3, 18, 41, 62, 55. Halt, Moment, das stimmt nicht. Noch mal von vorne.

Es wird immer schwieriger, sich auf diese Zahlen und ihre richtige Reihenfolge zu konzentrieren. Auch weil die Zahlen, deren Bedeutung mir immer unklarer wird, nun in verschiedenen Farben und Größen hinter meinen geschlossenen Augen auf mich zuschwimmen. Und dann ist da noch dieses sich aufbäumende Einhorn zwischen den Zahlen. Stammt das nicht aus meinem alten Märchenbuch? Oder aus einem Internet-GIF?

Irgendwie schaffe ich es trotz der Sprünge des Einhorns bis 90, dann weiter bis 95. Dann fällt mir ein, dass das auch die Saunatemperatur ist. Meine Gedanken, die offenbar die Sauna nicht verlassen wollen, verhaken sich in dieser Zahl. Aber gibt es das? Gedanken, die die Sauna nicht verlassen wollen? Stammt das Einhorn vielleicht aus diesem Fantasy-Film, dessen Name mir gerade nicht einfällt? Und waren 95 Grad nicht auch die Temperatur, mit der die Lammkeule gebraten wurde, die es neulich bei A. gab?

Hätte mein Fleisch, wenn ich jetzt endgültig wegdämmere und nach fünf Stunden in der Sauna wieder aufwache, auch diese zarte, saftige Konsistenz der Lammkeule, die man quasi mit dem Löffel essen konnte? Die sinnlosen Zahlen fließen nun um einen Bräter, in dem ich zwischen Kräutersträußchen liege, umwogt von einer 95 Grad warmen Soße nach einem Rezept von Dr. H. Lecter.

Dann kippte jemand dieses infernalisch stinkende japanische Minzöl auf den Saunaofen, holt mich aus meinem Halbschlaf und erspart mir das Schicksal der Lammkeule.

Tilman Baumgärtel