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Andre Wilkens über die Zukunft der EU„Europa muss besser funktionieren“

Am 60. Jahrestag der Römischen Verträge wollen nur wenige die EU feiern. Außer Andre Wilkens. Den Brexit hält der Politikwissenschaftler dennoch für eine Zäsur.

Bald ist Brexit – sind „wir“ dann trotzdem noch alle Europäer? Foto: imago/ZUMA Press
Anja Maier
Interview von Anja Maier

taz.am wochenende: Andre, als wir in den Achtzigerjahren in Ostberlin zur Schule gegangen sind – hättest du dir da vorstellen können, dass du dreißig Jahre später ein multilaterales Politikprojekt vehement verteidigen würdest?

Andre Wilkens: Nein, natürlich nicht. Aber wenn doch, hätte ich gedacht: Wahnsinn! Das hieße ja, die Mauer ist weg, und ich bin auf der anderen Seite.

Als wir uns vor sieben Jahren wiedergetroffen haben, warst du gerade mit deiner Familie von London nach Berlin gezogen. Auf meine Frage, was du so treibst, hast du geantwortet: Ich mache die Welt zu einem besseren Ort. Das war keine Ironie, oder?

Nein, das war meine Jobbeschreibung für meinen Sohn. Ich hatte für die EU und die UNO gearbeitet. Als wir uns wiedertrafen, war ich bei einer Stiftung. Was hätte ich ihm sagen sollen? Ich schiebe Papiere hin und her und gebe Leuten Geld?

Ist für dich die EU ein Weltverbessererprojekt?

Ja.

Am Samstag feiert diese EU den 60. Jahrestag der Römischen Verträge – damals wurde der Grundstein für Europa in seiner heutigen Form gelegt. Was gibt es da aktuell zu feiern?

Wir haben’s geschafft.

Klingt wie in einer schwierigen Ehe.

Ja, so ein bisschen: Wir sind beisammengeblieben. Anfangs gab es Probleme, dann hat man sich zusammengerauft, einfach ist es immer noch nicht. Es ist ja nicht so, dass die EU keine Krisen kennt. Dass es insgesamt ganz gut läuft, kann man schon mal feiern, finde ich.

imago/Jens Jeske
Im Interview: Andre Wilkens

1963 in Ostberlin geboren, ist Politikwissenschaftler und hat für die EU und die UNO gearbeitet. Sein neues Buch ist eben erschienen: „Der diskrete Charme der Bürokratie: Gute Nachrichten aus Europa“. Fischer, 320 S., 20 Euro.

Am Tag des Festakts in Rom findet auch der March for Europe statt, außerdem laufen überall in Deutschland die Pulse-of-Europe-Demos. Das scheinen mir eher Proteste als Feiern zu sein.

Das ist eine Frage der Definition. Bedeutet feiern, alles ist super und muss so bleiben, wie es ist. Oder bedeutet es: Wir haben ’ne Menge geschafft, aber es muss weitergehen, weil der Status quo nicht gut genug ist.

Schaut man sich die Pulse-of-Europe-TeilnehmerInnen an, sehe ich da Sorge um das Projekt EU. So lustig sie sind.

Ich war da auch. Und ich finde diese Demos super. Man hat Lust hinzugehen. Und so schlecht sieht es ja aktuell nicht aus für Europa. Vielleicht gewinnt in Frankreich Macron mit einer proeuropäischen Agenda, Schulz, der alte Europäer, macht sich auch nicht schlecht. Klar, das kann auch alles nach hinten losgehen, wenn Le Pen gewinnt und die AfD auf zwanzig Prozent kommt. Alle gucken aber gerade auf den Brexit und auf Trump, und sie fragen sich: Kann das hier auch passieren? Das ist eben auch Antrieb, was dagegen zu machen.

Die Pulse-of-Europe-Demos gehen auf die Initiative eines Frankfurter Rechtsanwaltspaars zurück. Der Titel ist englisch, die Slogans sind englisch, man sieht Akademiker, die Angst um die Erasmus-Stipendien ihrer Abiturkinder haben. Ist Europa ein Elitenprojekt?

Klar, ist Europa ein Elitenprojekt. Es wurde erdacht von klugen Politikern, hohen Beamten, von Philosophen, den Churchills dieser Welt. Der hat gesagt: Wir brauchen die Vereinigten Staaten von Europa. Wir müssen uns zusammenschmeißen, damit wir uns nicht mehr streiten. Auch der Kommunismus war ein Elitenprojekt, ebenso die Anti-Globalization-Bewegung. Es waren ja nicht die Arbeiter, die aufgestanden sind, sondern die Naomi Kleins dieser Welt.

Aber was haben Leute davon, die nicht zu diesem Elitennetzwerk gehören, sondern einfach sicher leben und arbeiten möchten?

Frieden. Das klingt platt, ich weiß. Aber ich finde, man sollte ruhig daran erinnern, dass wir Europäer uns jahrhundertelang gegenseitig die Köpfe eingeschlagen haben. Und zwar nicht die Eliten. Wenn wir uns in Europa nicht verstehen, sind es immer die Kleinen, die das austragen. Dass wir jetzt in relativem Frieden und Stabilität leben, seit einer langen Zeit, ist ein Faktor, den ich nicht wegwischen würde. Auch wenn manche sagen, das sei langweilig. Das ist alles andere als langweilig, wenn du nach Syrien oder in die Ukrai­ne schaust. Da schätzt du diese Langeweile des Friedens.

Du selbst bist ja ein Paradebeispiel für die Verheißungen Europas. Du bist nach der Wende nach London, Paris, Genf, Turin, du hast interessante Sachen studiert, tolle Jobs gefunden. Ist dein Blick auf Europa nicht der eines Begünstigten?

Vielleicht. Aber ich musste mir das alles ja erarbeiten. Ich hatte weiß Gott nicht die besten Voraussetzungen. Ich kam aus Ostdeutschland, hatte dort internationale Politik studiert – das konnte ich vergessen. Ich musste erst mal vernünftig Englisch lernen, Russisch brauchte keiner mehr. Für mich war schon vor dem Mauerfall klar: Nur unter Deutschen, das reicht mir nicht, das ist mir zu klein. Plötzlich mit Italienern, Griechen und Franzosen zu leben und arbeiten, das war ein Wahnsinn, wenn man vorher eingesperrt war.

taz.am wochenende

Endlich ist der Wolf wieder heimisch in Deutschland! Das freut nicht jeden. Für die taz.am wochenende vom 25./26. März hat unser Autor mit Biobauern gesprochen, die Abschüsse fordern, und sich ins Revier des Raubtiers gewagt. Außerdem: Hass – warum werden die Rohingya in Birma so erbittert verfolgt? Und: Ein Gespräch mit der Autorin Olga Grjasnowa über Heimat, Religion und Privilegien. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

Im Zusammenhang mit Politik ist gerade viel von Gefühlen die Rede. Die Gefühle gegenüber der EU sind, wenn nicht negativ, so doch häufig abständig. Wie könnte man das ändern?

Ich glaube, Geschichten erzählen hilft. Die EU muss erklärt werden. Mein Leben zum Beispiel ist eine Europa-Geschichte. Und ich bin ein echter Mensch und kein Propagandist.

Verstehst du EU-Skeptiker? Das Ding ist ziemlich unübersichtlich geworden und seit der Finanzkrise 2008 dysfunktional.

Tut mir leid, ich finde das, was wir Europäer zusammengewurschtelt haben, ziemlich super. Und das sollten wir ruhig laut sagen. Die Montan-Union war das politisch Kreativste, was seit Jahrhunderten gegründet wurde. Die Kohle- und Stahlindustrie zusammenzuschmeißen und so den Kampf um Ressourcen zu beenden – genial. Das waren Beamte, die Frieden über wirtschaftliche Zusammenarbeit geschaffen haben.

Also eine freundschaftliche Abhängigkeit?

Ja, Abhängigkeit. Heute würde man wohl einen Datenverbund gründen, damals waren es Kohle und Stahl. Im Prinzip war das eine Sharing Economy, so was wollen heute alle. Das war komplett neues Denken.

Und warum muss das Ding wachsen? Wäre es nicht langsam Zeit für eine Begrenzung?

Mehr Europa ist nicht an sich besser, das stimmt. Europa muss besser funktionieren, die wirklich wichtigen Angelegenheiten müssen geregelt sein, und dann auch richtig gut. Aber Begrenzung wäre nicht meine Herangehensweise. Lebensmittelsicherheit, Energiesicherheit, Verteidigung – da macht Europa Sinn. Aber dass jeder seinen Geheimdienst hat, der die anderen bespitzelt und die Daten anschließend an die Amerikaner verkauft, ist ein Unding.

Was ist mit der Eurokratie? Ich sage nur „gerade Gurken“.

Ja, die ist langweilig und macht mitunter bizarre Sachen. Aber ich finde Europas Bürokratie gar nicht so riesig. Ich meine: 55.000 Eurokraten – allein Berlin hat 250.000 davon. So ein Monster ist das gar nicht.

Das sehen nicht alle so. Beim Brexit haben 52 Prozent der Briten für den Ausstieg gestimmt, eine klarer Sieg des Bauchs über den Kopf. Was war da los?

Der britische Bauch war noch nie so richtig europäisch. Das hat viel mit der Geschichte Großbritanniens zu tun, auch mit dem Inselstatus. Viele Briten sehen ihr Land nach wie vor als Weltmacht, vergleichbar den USA oder Russland. Die Beziehung zu Europa war eine Vernunftehe, die einzig ökonomisch begründet wurde. So gesehen kam der Brexit also nicht ganz überraschend.

Deine Frau ist Britin, deine Kinder haben beide Pässe. Was war bei euch zu Hause los, als die Entscheidung gefallen war?

Erst mal totale Traurigkeit, totaler Schock. Eigentlich Depression. Die hält bis jetzt an. Meine Frau ist eine überzeugte Europäerin. Die findet: Nur Britain, das ist irgendwie langweilig. Wir kennen so viele Menschen in Europa. Und jetzt soll sie nicht mehr dazugehören. Das war für sie traumatisch, und das wird jetzt auch ein reales Trauma. Die Briten diskutieren ja gerade nicht nur die Abschottung vom Markt, sondern Bewegungsfreiheit, Niederlassungsfreiheit, die ganze europäische Freizügigkeit, wie wir sie kennen.

Sie ist Anwältin. Was würde das für sie bedeuten?

Sie beantragt jetzt die deutsche Staatsbürgerschaft. Sie will nicht alle paar Monate eine Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung beantragen. Aber ihr Hauptproblem ist, nicht mehr dazugehören zu sollen. Und dann all die Dinge, die jetzt in Großbritannien passieren. Dass Migration eingeschränkt wird, dass an den Unis wieder gilt: British first. Dass direkt nach dem Brexit Nachbarn ihre Nachbarn aufgefordert haben, das Land zu verlassen – das ist Nationalismus. Man sieht, wie schnell der zurückkommen kann.

Der Brexit, fühlt der sich für dich nicht ein bisschen wie der Mauerfall an? Alles kann sich jederzeit ändern.

Ja. Klar, dieses „Alles ist möglich“ hat sich uns Ostdeutschen eingebrannt. Aber der Brexit und dann auch noch Trump – wer hätte denn das für möglich gehalten? Das ist eine Zäsur. Nach dem Mauerfall haben manche vom „Ende der Geschichte“ gesprochen. Das war natürlich schon damals Quatsch. Aber dieses Gefühl, wir gehen jetzt alle in Richtung Paradies, war durchaus da. Und das ist jetzt auf jeden Fall vorbei. Die Geschichte ist zurück, und zwar mit einem lauten Knall. Vielleicht gucken wir bald auf die letzten siebzig Jahre zurück und sagen: Das war das liberale Zeitalter, und jetzt sind wir wieder da, wo wir vorher waren. Wer dazu keine Lust hat – und dazu gehöre ich –, der versucht vorher noch was zu tun.

Letzte Frage: Eure Kinder sind jetzt 19 und 11 Jahre alt. Wie machst du denen Mut?

Ich habe mich ja entschieden, optimistisch zu bleiben. Wir werden uns wieder fangen. Der Brexit und Trump haben ja auch dazu geführt, dass Leute aufgewacht sind, die vorher vielleicht unpolitisch oder doch eher gleichmütig waren. Die sagen sich: Wir können das nicht einfach laufen lassen. Vielleicht waren das heilsame Schocks, um den Status quo nicht nur zu verteidigen, sondern es besser zu machen.

Okay. Aber was sagst du deinen Kindern? Wird schon?

Dran bleiben.

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1 Kommentar

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  • Die EU ist nicht Europa. Sie sollte es sein, sie ist es jedoch nicht.

     

    Die EU ist ein Wirtschaftsbündnis mit politischen (Neben-) Effekten. Und das reicht nicht. Insbesondere dann nicht, wenn sie das Soziale nicht nur missachtet, sondern immer weiter verschlechtert. Da kann sie noch so gut für “die Wirtschaft” sein – wobei sie auch das nur noch für einige wenige Länder ist, und für die meisten ein riesiges ökonomisches Problem darstellt.

     

    So geht es nicht mit Europa.