Dreckwäsche, kein Geld, und die Schrotflinte verstreut die Möglichkeiten, vielleicht küssen, die Militärdiktatur ist grün, aber Intelligenz, was ist das schon, der Killerwal ist Luna, und der Tod wird besiegt

Foto: Johner/plainpicture

Der Wind der MöglichkeitenWenn man hustend im Bett liegt, die 688 Seiten von Zsuzsa Bánks Roman „Schlafen werden wir später“ schwer auf das Brustbein drücken und man von der ewig erschöpften Márta und ihren drei hustenden Kindern liest, kann man die eigenen Tränen getrost mit Mártas vermischen.

Alltagssorgen nicht zu knapp, ständig Dreckwäsche, kein Geld, kaum einen Gedanken frei für den Schreibtisch, an dem Márta, Schriftstellerin aus Frankfurt, an ihren Erzählungen arbeiten will. Klagend schreibt sie ihre Mails an Johanna im Schwarzwald, Lehrerin, dem Krebs entkommen, vom Freund verlassen. Ach, ist das düster. Man will schon nicht mehr weiterlesen, aber plötzlich sind die beiden nicht mehr von der Bettkante zu schieben. Das Buch beginnt, selbst zu einer tröstenden Freundin zu werden. Durch drei schwere Jahre arbeitet sich der Roman von Verzweiflung zu Zuversicht.

Die Zeit, die sich die Frauen nehmen, aneinander zu denken, sich das Herz auszuschütten, nachzudenken, warum sie so sind, wie sie sind, die bringt in die Erzählung von Mangel, Enge und Hektik eine großzügige Weite, einen befreienden Atem, einen Wind der Möglichkeiten. In ihrem Schreiben haben sie den Kopf schon aus dem Sumpf gezogen und folgen einem Zeitmaß, das hinüberweist in das Jahrhundert der Dichterin Annette von Droste-Hülshoff.

Bánks E-Mail-Roman ist eine Liebeserklärung an die dichterische Sprache vergangener Zeiten. Die Freundinnen schlingen poetische Bilder um ihren Alltag, schmücken ihre Sätze mit geborgenen Schätzen. Das hilft ihnen, mit sich Frieden zu schließen. Katrin Bettina Müller

Zsuzsa Bánk: „Schlafen werden wir später“. 2017, S. Fischer, Frankfurt am Main, 2017. 688 S., 24 Euro.

Durchhalten, damit sich etwas ändert

Der Winter hört nie mehr auf. Kalt sind die Tage und grau. Draußen ist feindlich. „Durchhalten“, denkt man, „einfach nur durchhalten.“ So ergeht es auch einem Kind, das in China Miévilles Roman „Dieser Volkszähler“ durchhalten muss, damit sich etwas ändert. Was es sein wird, bleibt so unklar und unwichtig wie sein Name oder das Land, in dem es lebt.

Miéville ist Sozialist, Brite, Fantastik-, SciFi-, Steampunk-, Comicautor, Erfinder abseitiger Welten, die es allesamt geben sollte, damit die reale Welt mal so interessant würde, wie es die Apologeten des Kapitalismus versprechen. Miévilles neues Buch düster zu nennen hieße, die Düsternis der Lächerlichkeit preiszugeben. „Dieser Volkszähler“ ist kalt, sehr kalt. Angst durchzieht die Gesellschaft; Angst auf dem Berg, Angst im Dorf, zu dem der Berg gehört, Angst vor Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Angst vor der Sprache, Angst vor und in allem – und in der Nähe klafft ein Abgrund, der noch weit mehr fasst als Angst.

Über eine Schrotflinte heißt es: „Sie verstreut Möglichkeiten.“ Verstreute Möglichkeiten bieten sich dem Protagonisten, um dem Pandämonium zu entkommen. Auch sie werden knapp und aufs Wesentliche reduziert ausfallen. Doch immerhin, es gibt sie. Das ist nicht wenig in einem Roman, dessen Motto „Zählung des ganzen Landes. Klassifizierung in Gruppen“ heißt, in dem es keinen Unterschied macht, ob jemand verschwindet oder tot ist.

Das grau-kalt-feindliche Februargefühl ist beim Lesen von der ersten Seite an da, und es wird immer intensiver. Mehr Licht und Frühlingsvorboten kommen – und gehen. Wer hier aber sagt: „Durchhalten, einfach nur durchhalten“, der verpasst große Kunst. Maik Söhler

China Miéville: „Dieser Volkszähler“. Aus dem Englischen von Peter Torberg. Liebeskind, München 2017, 176 S., 18 Euro.

Hätte man küssen müssen?

Richtig erwachsen sind sie nicht. Doch sie stellen erwachsene Dinge an: Sie kommen sich nahe, beleidigen sich, saufen, erschrecken sich, leiden still, leiden laut. Icherzählerin Johanna, die im innerlich reflektierenden Präsens die Geschichte einer tiefen, mal mehr, mal weniger platonisch erfüllten Freundschaft zu ihrem Schulkameraden Boris Revue passieren lässt, versucht zu verstehen, was passiert: Hätte man sich küssen müssen? Hätte man nicht wissen müssen, wie es um Boris steht, der nach der Hälfte der Geschichte verschwindet, und seine Eltern, seine beste Freundin Johanna und seine Geliebte Ana-Clara verzweifelt zurücklässt?

Der Regisseur und Drehbuchautor Jan Schomburg hat sich für sein Debüt als Romancier ein Minenfeld aus emotionalen Tretbomben ausgesucht: die Psyche eines jungen Mädchens. Da gibt es messerscharfe Analysen, die Johanna durchführt. Sensibel scannt sie ihre Umgebung und das Verhalten der Jugendlichen und Erwachsenen. Doch es gibt auch die Unsicherheit eines jungen Menschen, der über die eigenen Gefühle genauso erschrickt wie über die, die er bei anderen evoziert.

Schomburg nutzt für seine präzisen Beschreibungen sein Talent als Drehbuchautor. So beschreibt er das Kräftemessen zwischen Boris und seinem Vater in einer Szene, die den Film im Kopf sofort ins Rollen bringt: Das neue, wertvolle Fahrrad ist verschwunden, das Boris (entgegen seinem Versprechen) kurz vergaß anzuschließen. Als Boris das Rad im eigenen Keller entdeckt, begreift man mit ihm, dass sein Vater ihm eine Lehre erteilen wollte. Und ist erschüttert, wie kaputt das Vertrauen zwischen den beiden bereits ist, wie schwer die Erziehungshoheit auf dem Vater lastet.

PubertistInnen und ratlose Eltern sollten „Das Licht und die Geräusche“ am besten nacheinander wegatmen. Jenni Zylka

Jan Schomburg: „Das Licht und die Geräusche“. dtv, München 2017, 256 S., 20 Euro

Man muss die Dinge von hinten nehmen

Die „wal“ – bringt leider doch keinen „putsch mit anschließender grüner militärdiktatur“. Die Evolution? Eine „degenerative Wurst“. Und diese Spinat-Mozarella-Knödeln vom Hofer – die gehen bloß, „wenn man ok zum Leben gesagt hat aus Resignation vor Ästhetik & Sinnlichkeit“. Puneh Ansari, in den 1980ern als Kind von Exil­iranern in Wien geboren, ist Österreicherin durch und durch. Ihre Gemütslage mäandert zwischen Thomas Bernhard’schem Ekel vor Machos und „Waachbirnen“, freundlicher Melancholie und schwarzer Heiterkeit. Trost findet sie in „uroarg“ gewürzten koreanischen Nudelsuppen, Mehlspeisen – und kleinen Derb- und Gemeinheiten, die sie auf Facebook postet.

Jetzt sind ihre Kurztexte als Buch erschienen. „Hoffnun’“ heißt es, der popkulturell gesetzte Apostroph deutet an, dass Ansari Gepflogenheiten der Literatur schnurz sind. Groß- und Kleinschreibung? Zeichensetzung? Forget it. Auch größeren Sinnzusammenhängen ­verweigert sich Ansari. Aber die scheinbar hingeschmissenen Fetzen sind sorgfältig poliert, gleich wohlgesetzten Rap-Lyrics: kurze Rülpser aus den Tiefen eines zivilisationsgeplagten Bewusstseins. An schlechten Tagen banal, an guten von absurder Poesie.

„Hoffnun’“ profitiert von der Erfolgswelle, die Ansaris Call-Center-Kollegin Stefanie Sargnagel mit ihrer Facebook-Poesie losgetreten hat. Puneh ist keine Epigonin, ihr Kosmos weniger derb, ihre Beobachtungen politischer. Sie sinniert über die Austerität, die Griechenland ausblutet, oder ihren Überdruss am Klima-Alarmismus: „Wenn so eine Sauce aus Empörung über jedes 0,4°C mehr Temperatur und jede bedrohte Kakerlake über einen gebracht wird und es seit 40 Jahren ununterbrochen 5 vor 12 ist mit der Natur, seit es Fernsehen gibt, wie soll man dann reagieren?“ Ja, wie? „Man muss die Dinge mit Humor nehmen, von hinten und mit Humor.“ Nina Apin

Puneh Ansari: „Hoffnun’“. mikrotext, Berlin 2017, 168 S., 5,99 Euro

Drastisches sollen wir lernen

Wenn ein Holocaustforscher ein Buch zur aktuellen politischen Entwicklung in seinem Land herausbringt, dann stimmt etwas nicht. Timothy Snyder, Autor von Bloodlands (2013) und Black Earth (2015), hat genau das gemacht und die aktuelle politische Entwicklung in seiner Heimat USA in geschichtlichen Bezug gesetzt. Mehr noch: Snyders Büchlein „Über Tyrannei. Zwanzig Lektionen zum Widerstand“ ist ein Ratgeber für die kommenden Jahre. Darin mahnt er vor den Anfängen der Tyrannei.

Hitler wie Trump hätten das Wort „Volk“ benutzt und damit nur „bestimmte und nicht andere“ Menschen gemeint. Für Hitler sei Kritik an seiner Weltsicht eine Verleumdung gewesen, „der Präsident“ nenne sie Beleidigung, schreibt Snyder.

Diese Vergleiche haben Potenzial, kontroverse Diskussionen anzuregen. Snyders Thesenbuch scheint aber vor allem als politische Einstiegslektüre für junge Menschen gedacht zu sein. Er argumentiert, junge Amerikaner könnten von der faschistischen Vergangenheit Europas lernen. Seine Vergleiche sind drastisch. Es ist ein kurzes Lehrbuch mit Handlungsaufforderungen. In der Lektion „Hüte dich vor dem Einparteienstaat“ führt er die historischen Bezüge zu den letzten freien Wahlen 1932 in Deutschland mit einer Aussage aus dem Roman des britischen Schriftstellers David Lodge ein. In dem spricht der Protagonist davon, dass, „wenn man zum letzten Mal Sex habe, wisse man nicht, dass man zum letzten Mal Sex habe. Mit dem Wählen ist es genauso“, schreibt Snyder.

Snyder gibt auch Tipps für den Alltag: „Unterstütze Initiativen und investigativen Journalismus, geh wählen, hänge weniger vor Bildschirmen, sondern setze dich aktiv für deine Überzeugung ein!“ Die letzte Lektion „Sei so mutig wie möglich“ wirft Fragen auf. Sie besteht nur aus einem Satz: „Wenn niemand von uns bereit ist, für die Freiheit zu sterben, dann werden wir alle unter der Tyrannei umkommen.“ Verwirrend eindringlich, schließlich gab Snyder zuvor den Tipp, im Privatleben rechtliche Schwierigkeiten zu vermeiden, sich nicht angreifbar zu machen. Es ist auch ein mindestens trostloser Blick in die Zukunft, den Snyder da zum Ende hin zeichnet. Linda Gerner

Timothy Snyder: „Über Tyrannei. Zwanzig Lektionen für den Widerstand. Übersetzt von A. Wirthensohn. C. H. Beck, ­München 2017, 127 S., 10 Euro

Intelligenzforschung ad acta

Der amerikanische Meeresbiologe Carl Safina lässt zum Glück die unselige Laborforschung über tierische Intelligenz links liegen. Dass sein Buch über das „Fühlen und Denken“ von Elefanten, Wölfen und Orcas „Die Intelligenz der Tiere“ heißt, hat sein deutscher Verlag verbrochen, im Original heißt es „Beyond Words“. Der Autor findet es wie der US-amerikanische Rabenforscher Bernd Heinrich merkwürdig, „dass das Leben an sich nicht allen Leuten beeindruckend erscheint, aber aus irgendeinem Grund beeindruckt sie das ,intelligente' Leben. Wenn man das Leben insgesamt betrachtet, ist Intelligenz nur eine Borste am Schwein.“

Gleichfalls verwirft Safina die bei Verhaltensforschern beliebte „Theory of Mind“, indem er den Spieß umdreht: Es ermangelt eher uns an der Fähigkeit, die Gedanken und Gefühle von Tieren zu verstehen. Das, was man Empathiefähigkeit nennt, wird laut Safina durch unsere Sprache eingeengt. Infolge dieser Absage an Objektivität bleiben ihm nur Erlebnisse und Erfahrungen, die von den Positivisten als Anekdoten abgetan werden, wobei der Autor nicht davor zurückschreckte, auch die ins Esoterische lappenden aufzunehmen. Seine Gewährsleute dafür sind allerdings ausgewiesene Naturforscher, die sich bewusst mit der Schilderung ihrer Erfahrungen an den Rand der wissenschaftlichen Unseriosität bewegen, was sie dann auch sogleich in Rechnung stellen.

So zitiert Safina etwa die berühmte kanadische Orcaforscherin Alexandra Morton, die nach einem telepathisch anmutenden Erlebnis mit „ihrer“ Killerwalgruppe schrieb: „Ich weiß, dass das in der Wissenschaft nichts zu suchen hat (und vielleicht auch in einem normalen Verstand nicht), aber könnten unsere Parameter der Realität nicht ein kleines bisschen zu eng gesetzt sein?“ Safina beherzigt zudem das antipsychiatrische Credo „All labelling is lethal“, wenn er über die Erfahrungen des englischen Dokumentaristen Michael Parfit mit einem Orca äußert: „Er sah nicht mehr etwas, das nicht menschlich aussah. Er sah keinen Killerwal mehr. Er sah Luna.“

Das kommt dem Anspruch des prominenten deutschen Biologen Josef Reichholff nahe: „Tiere, auch solche in freier Wildbahn, müssen zu Individuen mit besonderen Eigenheiten werden. Zu lange wurden sie lediglich als Vertreter ihrer Art betrachtet, sogar von Verhaltensforschern. Das machte sie austauschbar und normierte sie zum arttypischen Verhalten. Und das ist falsch.“ Helmut HÖge

Carl Safina: „Die Intelligenz der Tiere. Wie Tiere fühlen und denken“. Übersetzt von S. Schmid/G. Würdinger. München 2017, 526 S., 26,95 Euro

Auf dem Datenweg zu Gott

Dem israelischen Historiker Yuval Noah Harari ist bereits mit dem in 40 Sprachen übersetzten Buch „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ ein Weltbestseller gelungen. Nun hat er aller Voraussicht nach mit „Homo Deus. Eine Geschichte von morgen“ einen zweiten geschrieben, denn Harari weiß das Bedürfnis der Leser nach einer Draufsicht aufs Ganze und nicht nur auf einen Aspekt, im Plauderton geschrieben, hervorragend zu befriedigen. Und ja, es ist intelligent, scharfsinnig und manchmal sogar überraschend witzig, wie die durchweg begeisterten Kritiker auf der ganzen Welt ihm attestieren, denn er eröffnet einen ganz anderen Blick auf Geschichte, und er wagt nun sogar einen Ausflug in die Zukunft.

Hararis Prämissen sind die drei Hauptfeinde der Menschheit: Hunger, Krieg und Seuchen. Die seien nun überwunden, und das belegt er mit Zahlen, denen zufolge mehr Menschen Selbstmord begehen, als von Soldaten, Terroristen und Kriminellen umgebracht zu werden. Für den Durchschnittsmenschen stellt Cola oder Zucker „eine weitaus größere Gefahr dar als al-Qaida“.

Zwischen 1692 und 1694 beispielsweise, in nur zwei Jahren, verhungerten in Frankreich etwa 2,8 Millionen Menschen, also rund 15 Prozent der Bevölkerung, heute hingegen gibt es „keine ‚natürlichen‘ Hungersnöte mehr auf dieser Welt, sondern nur politische“. An dem überall gefürchteten Sars starben weltweit keine 1.000 Personen, während im Mittelalter die Pest den Tod von 75 bis 200 Millionen Menschen forderte. Nachdem der Mensch seine Hauptfeinde besiegt hat, steht nun der Kampf gegen den Tod, das Streben nach Glück und nach einer gottähnlichen Existenz auf der Agenda des Menschen. Der Tod ist für die moderne Wissenschaft laut Harari nur „ein technisches Problem“.

Das vollkommene Glück hingegen hat seine Tücken, denn das Erreichen dieses Zustands bedeutet Antriebslosigkeit, das genaue Gegenteil dessen, was man benötigt, um Gott werden zu können, eine irgendwie ganz anders geartete Existenz, die durch Algorithmen und freien Datenfluss möglich werden soll. Zwar soll man Hararis Szenarien nicht als Prognosen verstehen, sondern als Möglichkeiten, aber dennoch wird deutlich, dass er dieser Entwicklung gern freien Lauf lassen würde. „Warum wuchsen die USA schneller als die UdSSR? Weil die Information in den USA freier floss.“ Die Menschen können schon lange nicht mehr die ungeheuren Datenströme bewältigen und werden davon auch nicht klug, weshalb man die Datenverarbeitung den Algorithmen überlassen sollte, die alles auf „natürliche Weise“ regeln.

An dieser Stelle erweist er sich als Anhänger von Airbnb und Uber, die auf dem Weg zu Gott jede Menge Existenzen zerstören werden, weshalb dieses Streben danach vor allem eins ist: ein Prozess, an dem nur eine Elite wird teilhaben können. Gegenüber diesem Prozess werden sich sämtliche vergangenen Epidemien, Hungersnöte und Kriege vermutlich harmlos ausnehmen. Klaus Bittermann

Yuval Noah Harari: „Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen“. Übers. v. A. Wirthensohn. C. H. Beck 2017, 576 S., 24 Euro