Der Freund, das Herz, drei Stunden Gesang

Deutsche Oper Das Auge hört mit in der Oper. Was nicht immer gut geht. Graham Vicks Inszenierung von Benjamin Brittens letzter Oper, „Tod in Venedig“, bebildert das Selbstverständliche

Paul Nilon als Gustav Aschenbach in der Deutschen Oper Foto: Marcus Lieberenz/Bildbühne

von Katharina Granzin

Es ist eine Wahnsinnsrolle für einen Tenor. Drei Stunden dauert die Aufführung von Benjamin Brittens Oper „Tod in Venedig“ in der Deutschen Oper, und drei Stunden lang steht Paul Nilon als Gustav Aschenbach nicht nur auf der Bühne, sondern hat auch fast permanent zu singen – unterbrochen fast nur von den Auftritten des Bassbaritons (Seth Carico), den Britten in verschiedenen Rollen als symbolischen Todesboten einsetzt, und von ein paar Chor- bzw. Massenszenen.

Polystilistisches Panorama

Aschenbach war die letzte Rolle, die Britten für seinen Lebensgefährten, den Sänger Peter Pears, schrieb, „Tod in Venedig“ sein letztes großes Bühnenwerk. Kurz danach unterzog der Komponist sich einer lange aufgeschobenen Herzoperation, die sein Leben aber nicht anhaltend verlängern konnte. 1976, gut dreieinhalb Jahre nach der Uraufführung von „Tod in Venedig“, starb Britten mit 63 Jahren.

Die Musik, mit der seine Oper Gustav Aschenbach auf der letzten Reise begleitet, ist unter anderem ein polystilistisches Panorama der Musik des 20. Jahrhunderts. Zwölftontechnik verschränkt sich mit klassischer Tonalität, balinesische Gamelanmusik klingt an, und manche Passagen überlässt der Komponist in gemäßigter Aleatorik dem Zufall und dem Tempowillen der Ausführenden. Kleinteilige, wiederkehrende Motive werden gleichsam schichtenweise über die Tonhöhen und mitunter fast durch das gesamte Orchester verschoben, in dem nicht den Streichern, sondern Bläsern und Schlagwerk die entscheidenden Rollen zukommen. Donald Runnicles und seinen Leuten im Orchestergraben gelingt es gleichermaßen, die Vielschichtigkeit und Mehrdimensionalität der Partitur gut durchhörbar zu gestalten und dabei jederzeit die Gesamttextur zusammenzuhalten.

Nun geht man allerdings nicht nur zum Hören in die Oper. Anders gesagt: Das Auge hört mit. Das kann beglückend sein, wenn sich dadurch weitere Bedeutungsräume erschließen oder wenn der Geist der Musik sich auf kongeniale Weise im Visuellen gespiegelt findet. An anderen Abenden dagegen führe man besser damit, einfach mal wegzusehen.

Man müsste in Graham ­Vicks Version von „Tod in Venedig“ den ganzen Abend die Augen geschlossen halten, wenn man es vermeiden wollte, sich dieses unverständlich übertriebene Todesstyling angucken zu müssen, den gigantischen schwarz-goldenen Bilderrahmen mit einem nur noch halb zu erkennenden Verstorbenenporträt und den riesigen Haufen verwelkter Tulpen, die den halben Bühnenhintergrund ­einnehmen. Ein Ensemble schwarzer Stühle, auf denen zu Beginn der Chor Platz genommen hat wie zu einer Trauerandacht, komplettiert die Requisite.

Ein riesiger Haufen verwelkter Tulpen, wo soll der Chor da bloß noch stehen?

Ein semantisch überflüssigeres Bühnenbild für eine Oper, die den Begriff „Tod“ im Titel führt und deren Hauptperson bereits zu Beginn von Todesahnung zu singen weiß, ist wohl kaum denkbar. Die aufdringliche Bebilderung des Selbstverständlichen findet ihre inszenatorische Entsprechung in allerlei meist statuarisch bleibendem Gehampel, zu dem man die Damen und Herren des Chors und natürlich vor allem jene jungen Männer, welche die Spielkameraden des Knaben Tadzio darstellen, verpflichtet hat und mit dem wohl irgendwie die Handlung illustriert werden soll. Die Verteilung der mitunter beträchtlichen Menschenmenge auf der Bühne ist allerdings schon darum nicht ganz einfach, weil ja die toten Tulpen und der Bilderrahmen viel Platz wegnehmen und man den Chor dann eben schlicht irgendwo hinstellen muss. Das wirkt manchmal so, als habe man sich kurzfristig entschlossen, diese Oper doch konzertant aufzuführen und das mit dem Inszenieren halt sein zu lassen.

Nicht zuletzt lenkt es furchtbar ab von der Musik, wenn man sich ständig fragen muss, ob das jetzt wirklich so konzeptfrei ist oder nur so aussieht. Was für ein verwirrender Einfall übrigens, das Ende der Oper umzudrehen! Warum nur?

Die Spannung, die der Komponist und sein Librettist Myfanwy Piper so sorgsam aufbauen zwischen dem Außen und dem Innen, dem Individuum und den anderen, Aschenbach und dem Rest der Welt, verpufft somit ein ums andere Mal in Szenen, die wie Notlösungen wirken. Eine schöne Idee ist es, das Klavier mit auf die Bühne zu stellen, das Aschenbachs einsame Secco-Monologe begleitet. Aber diese Bühne ist ohnehin so voll, dass es nie so wirkt, als sei der Mann allein. Vielleicht gelingt es auch deshalb dem stimmlich eigentlich hervorragend Paul Nilon nicht gänzlich, jene Anmutung von Innerlichkeit herzustellen, die ein Tenor eben auch beherrschen sollte, um das Attribut „lyrisch“ zu verdienen. Trotzdem: toll gesungen – von allen.

Nächste Vorstellungen: Mi. 22. 3. 19.30 Uhr, Sa. 25. 3. 19.30 Uhr