Alles nach oben stapeln

Wohnen III Familie Lindermeir wohnt in Neukölln zu fünft: 81 Quadratmeter in zweieinhalb Zimmern. Das ist verdammt eng. Es geht nur, weil jeder Zentimeter als Stauraum genutzt wird

Bei Familie Lindermeir zu Hause im Weichselkiez in Neukölln: Frank träumt vom Skifahren

Von Dinah Riese
(Text) und Sebastian Wells (Fotos)

Bei Familie Lindermeir hängen Rucksäcke, Bobby-Cars und Kinderspielzeug von oben im Flur herab wie eine Kunst­installation, befestigt an einer Gitterkonstruktion unter der hohen Decke. Die Jacken sind auf Kopfhöhe an einer selbst gebauten Garderobe verstaut, die gleichzeitig als Raumteiler fungiert. Jeder Zentimeter Wand, so scheint es, muss Stauraum hergeben.

Lindermeirs sind nicht etwa passionierte Sammler, die ihre Schätze unterbringen müssen. Sie sind die Eltern einer jungen Mittelklassefamilie in Neukölln. Und sie sind ein weiteres Beispiel dafür, wohin die Gentrifizierung die Stadt führt. Denn Lindermeirs wohnen zu fünft in zweieinhalb Zimmern auf 81 Quadratmetern. In verrückten Momenten träumen sie von einer 120-Quadratmeter-Wohnung irgendwo im Kiez. Zurück in der Realität blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich – vor allem räumlich – mit ihrer Wohnung zu arrangieren. Denn wie bei den Al Soukiehs (siehe Seite 43) blieb ihre Suche nach einer bezahlbaren und gleichzeitig angemessen großen Wohnung bisher erfolglos.

Das Paar zieht im März 2008 in die Wohnung im Weichselkiez. Eine schöne Gegend mit vielen Altbauten, Cafés und Spielplätzen und dem Landwehrkanal direkt vor der Tür. Eva Lindermeir ist gerade das erste Mal schwanger. 81 Qua­drat­me­ter, schöne große Räume – die Wohnung ist wie gemacht für die werdende Familie.

Jetzt sitzen Eva Lindermeir und ihr Mann Andreas an dem großen runden Tisch in der einen Ecke der Küche. „Gefühlt platzt hier alles aus den Nähten“, sagt Eva Lindermeir. Fünf Personen in zweieinhalb Zimmern – „eigentlich zweieinviertel“, sagt Andreas Lindermeir. Denn zu dritt sind sie längst nicht mehr. Zwei Jahre nach dem inzwischen achtjährigen Frank kam Nona zur Welt, im Sommer 2014 dann Tommy. Das kleinste Zimmer der Wohnung ist das für Berliner Altbauten typische „Dienstmädchenzimmer“. Es hat gerade mal sechs Quadratmeter. Dort hat Frank sein Hochbett. Darunter steht das ebenfalls leicht erhöhte Kinderbett von Tommy. Viel mehr hat in dem Kämmerchen kaum Platz. Immerhin gebe es durch die Hochbetten etwas mehr Stauraum, erzählt Andreas Lindermeir.

Einer Untersuchung des Stadtsoziologen – und kurzzeitigen Staatssekretärs – Andrej Holm für die Fraktion die Linke im Abgeordnetenhaus aus dem Jahr 2016 zufolge, ist die Binnenwanderung innerhalb Berlins in den Jahren 2007 bis 2014 um ganze 11,4 Prozent gesunken – von 18,7 Prozent auf gerade noch 7,3 Prozent. Die Leute ziehen nicht mehr um. Eine Entwicklung, die sich auch in der Heerstraße Nord (siehe Seite 41) beobachten lässt: In den Gewobag-Wohnungen ist die Fluktuation seit 2010 von 11 auf 6,5 Prozent gesunken und liegt damit unter dem Berliner Durchschnitt.

Was hingegen stetig gestiegen ist, ist die Zahl der Zuzüge in die Stadt – eine Zuname um beinahe 40 Prozent: Waren es 2007 noch 125.000 Zuzüge, kamen 2014 schon 280.000 Menschen neu nach Berlin. Da im selben Zeitraum nicht mal annähernd im gleichen Maßstab neu gebaut wurde, trug diese Entwicklung massiv zur Wohnungsknappheit bei. 2014 wurden in Berlin laut Statistischem Landesamt 2.131 Gebäude mit insgesamt 7.069 Wohnungen fertiggestellt.

Diese Folgen werden dadurch verstärkt, dass immer mehr Wohnungen zum Kauf und nicht zur Miete angeboten werden. 28.000 wurden zwischen 2012 und 2014 von Miet- in Eigentumswohnungen umgewandelt. Landesweit werden inzwischen mehr Wohnungen zum Kauf als zur Miete angeboten. (dir)

Als die Lindermeirs einziehen, zahlen sie knapp 383 Euro (kalt) im Monat. Seitdem wurde die Miete mehrfach erhöht, zuletzt Anfang 2017. „Zum Glück haben wir nur moderate Erhöhungen bekommen“, sagt Eva Lindermeir. Es habe keine umfassenden Modernisierungsarbeiten gegeben, das Gebäude sei nur teilgedämmt worden.

Das Haus gehört zwei Schwestern, ist also nicht im Besitz eines großen Immobilieninvestors. „Moderate Erhöhungen“, das heißt für die Familie, dass sie seit 1. Januar dieses Jahres 612,58 Euro Kaltmiete für ihre Wohnung zahlen soll. Ein allmählicher Anstieg von knapp 230 Euro über knapp neun Jahre. Und ganz nebenbei liegt die Quadratmetermiete mit 7,52 Euro kalt inzwischen auf den Cent genau an der Obergrenze des Mietspiegels.

„Im Vergleich mit den Neuvermietungen ist das ja noch im Rahmen“, sagt Eva Lindermeir. „Im Nachbarhaus wurde die Miete auf einen Schlag um 180 Euro erhöht.“ Doch so langsam sei ihre Schmerzgrenze erreicht. Deswegen hätten sie bei der letzten Mieterhöhung erstmals nicht sofort unterschrieben. „Wir arbeiten beide nicht Vollzeit“, erklärt Andreas Lindermeir, der als Koch eine 90-Prozent-Stelle hat. Eva Lindermeir ist Lehrerin an einer Berufsschule für Maler und Lackierer, sie unterrichtet 15 Stunden pro Woche plus Vorbereitungszeit.

Im Laufe der Jahre hätten sie sich immer mal wieder nach Alternativen zu ihrer Wohnung umgesehen. „Aber alles hätte eine Verschlechterung bedeutet“, sagt Andreas Lindermeir. Dabei ist es eng. Neben dem Zimmer der Jungs und der Küche gibt es noch das Wohnzimmer und ein Durchgangszimmer. In diesem stehen sogar gleich zwei Hochbetten. Hier schlafen die Eltern und die sechsjährige Nona.

Was in einer kleinen Wohnung alles möglich ist, führen die Lindermeirs vor Augen – Nona schaukelt. Die Geschichte der fünfköpfigen Familie: Seite 44

Wie in den beiden Fluren hängen auch hier die Wände voller selbst gebauter Konstruktionen für die Habseligkeiten der Familie. Der Raum unterm Hochbett der Eltern ist eine Mischung aus Kleiderschrank, Bücherregal und Abstellkammer. An Nonas Hochbett sind Stricke und Seile zum Klettern und Spielen befestigt. Das Wohnzimmer ist der einzige Raum in der Wohnung, der nicht bis in den letzten Winkel zugebaut ist. Es ist auch das einzige Zimmer, das viel Sonne abbekommt. Hier ist der Ort zum Sitzen, Reden, für Gemütlichkeit.

„Wir müssen die Höhen ausnutzen, Dinge und auch uns selbst nach oben stapeln“, sagt Andreas Lindermeir. Selbst der Kühlschrank steht auf der Küchentheke. „Dieses ganze Umräumen hat mir am Anfang den letzten Nerv geraubt“, gibt Eva Lindermeir zu. „Immer wenn ich mich gerade daran gewöhnt hatte, stand wieder alles woanders.“ Am Ende seien es aber genau diese kleinen Umbauten gewesen, die das Wohnen auf so wenig Raum erträglich gemacht hätten. Die meisten Basteleien hat Vater Lindermeir selbst erledigt.

„Wir suchen uns unsere Rückzugsräume woanders“, sagt Andreas Lindermeir. – „Ja, du zum Beispiel auf dem Sportplatz“, sagt seine Frau, „oder bei der Arbeit in der Mitarbeitendenvertretung.“ Zwei mal die Woche gibt ihr Mann Fußballtraining, am Wochenende ist er auf Turnieren. Sie selbst fährt ein- oder zweimal pro Woche nach Teltow. Dort hat Eva Lindermeir eine Reitbeteiligung.

„Wir suchen uns unsere Rückzugs­räume woanders“

Andreas Lindermeir

Auch die Kinder werden mehrmals die Woche „ausgelagert“: Nona geht zweimal die Woche zum Turnen, Frank einmal zum Taekwondo und ein- oder zweimal wöchentlich zum Fußballtraining mit Papa. Weil sein Vater der Trainer ist, muss der Sohn keinen Beitrag zahlen – eine finanzielle Entlastung für die Familie. „Durch all diese Dinge sind wir nicht darauf angewiesen, ständig hier in der Wohnung zu sein“, sagt Andreas Lindermeir.

Dabei mögen Lindermeirs ihr Zuhause. Sie mögen den Kiez, die Nachbarn, die kurzen Wege. Die Kinder können zur Schule laufen, die Kita ist um die Ecke, und viele befreundete Paare mit Nachwuchs wohnen nur wenige Minuten entfernt. „Wir sind hier sozial eingebunden“, sagt Eva Lindermeir. Es sind auch diese Netzwerke, die das Leben in der kleinen Wohnung erträglich machen. Wenn die Kinder nach der Schule nicht beim Sport sind, sind sie oft bei FreundInnen. „Manchmal haben wir dann auch fünf oder sechs Kinder hier“, sagt Andreas Lindermeir. „Die Familie von Franks Freund wohnt zu viert in zwei Zimmern“, erzählt Eva Lindermeir. „Der kommt zu uns und sagt, hier sei viel Platz.“

„Seit vier oder fünf Jahren sagen wir: noch maximal ein Jahr, bis wir aufs Land ziehen“, sagt Eva Lindermeir und zuckt die Achseln. Sie hätten sogar mal auf ein Häuschen in Brandenburg geboten. „Es war aber doch sehr runtergekommen“, sagt sie. „Inzwischen bin ich ganz froh, dass wir den Zuschlag damals nicht bekommen haben.“

Das gibt es auch im Kiez: Bleibe von Obdachlosen in der Weichselstraße

Einmal aber dachten sie, sie hielten es nicht mehr aus. Die Enge. Die fehlende Privatsphäre. Das permanente Aufeinanderhocken. „Dann haben wir uns einen VW-Bus gekauft“, sagt Eva Lindermeir und lacht auf. „Das gab uns das Gefühl, frei zu sein, reisen zu können.“ Raus, wann immer man will und wohin man will. Wie Aufatmen fühlte sich dieser Gedanke an. „Besser, als sich zu verschulden, um eine Wohnung zu kaufen“, schiebt Andreas Lindermeir hinterher.

Der Stresstest werde noch kommen, sind sich die Eltern sicher. Wenn der Älteste elf oder zwölf Jahre alt werde. „Momentan hat er sein Hochbett in dem kleinen Zimmer und ist damit glücklich. Aber wir lange noch?“, fragt Andreas Lindermeir und verzieht die Mundwinkel.

Lindermeirs mussten sich arrangieren. Irgendwann wird es nicht mehr gehen – weil die Kinder zu groß für die improvisierten Lösungen werden. Oder aber, weil sich die Familie auch ihre kleine Wohnung nicht mehr leisten kann. Etwa 2.500 Euro monatlich hat die Familie zur Verfügung. Mit der neuesten Mieterhöhung liegen sie bei etwa 815 Euro warm im Monat. Damit geben sie schon jetzt fast ein Drittel ihres Einkommens allein für die Miete aus. „Vielleicht kann man mit den Vermieterinnen ja irgendwas aushandeln“, überlegt Eva Lindermeir. „Aber warum sollten sie uns was erlassen?“, fragt Andreas ­Lindermeir. „Sie bekommen die Wohnung doch auf jeden Fall zu dem Preis los.“ Das Paar hat ein gutes Verhältnis zu den Vermieterinnen, und das soll auch so bleiben. „Wir wollen unbedingt in der Wohnung bleiben.“

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