Wenn die Auf-gar-keinen-Fall-go-Area plötzlich in einem anderen Licht erscheint

Potsdamer Platz Überlegungen beim Schlangestehen: Das schöne Dasein als Schnäppchenjäger und Tourist bei der Berlinale

Die Leute am Potsdamer Platz scheinen wie ausgetauscht, sie sehen freundlicher aus als sonst

Die Berlinale, das sind für mich als allererstes die pinken und roten Leuchtröhren, die zehn Tage im Februar die Stresemannstraße säumen und bei denen ich mich frage, ob sie wie ein Thermometer das Berlinale-Fieber messen. Falls ja, ist das Fieber am Anfang der Stresemannstraße vom Halleschen Tor kommend am höchsten, magentaglühend, während es dann abnimmt, wenn man sich dem Eventort nähert. Also unlogisch irgendwie.

Der Potsdamer Platz ist ja eigentlich eine No-go-Area, in den Berlinale-Tagen aber hält man sich plötzlich gern dort auf. Die Leute scheinen auch wie ausgetauscht, sie sehen freundlicher aus als sonst, flanieren jetzt statt zu hustlen.

Aber bevor man überhaupt dort ankommt, muss man aufpassen, nicht gleich Horden von Berlinale-Besuchern, die ausnahmslos alle auf den Radwegen gehen, umzufahren. So geht es im Riesenslalom Richtung Sony-Center, fast komme ich mir vor wie Felix Neureuther.

Ich bin wirklich kein Berlinale-Spezialist, eher der Tourist, der Schnäppchenjäger, der versucht, ein paar Tickets abzugreifen. In den Potsdamer Platz Arkaden, auch eigentlich eine Auf-gar-keinen-Fall-go-Area, starrt man in der Ticketschlange auf die Übersicht über dem Kassenhäuschen, die wie der Abfahrtsplan in einer Bahnhofshalle aussieht. Nur ist für die wirklichen Knallerfilme der Zug meist schon abgefahren.

„Brauchen Sie Karten für den Beuys morgen früh?“, wird man, in der Schlange vor dem Ticketschalter stehend, gefragt. 9.30 Uhr am nächsten Morgen, meint die Frau, die das Ticket anbietet, liefe der Film, aber zu dieser Zeit werde ich leider arbeiten müssen, außerdem will ich eigentlich nicht Beuys, sondern Hader. Oder Kaurismäki.

Rot, Gelb und Grün sind die Farben, die hier am Schalter zählen. Mehr muss man nicht wissen. Rot heißt ausverkauft, Gelb bald ausverkauft und Grün verfügbar. Ich überlege mir, während die Schlange vor mir kürzer wird, ob ich nicht einen Klassiker wie „Shining“ oder „A Clockwork Orange“ gucken soll, besser als nichts, denke ich, und besser als irgendein anstrengender Dokumentarfilm. „Terminator 2“ wäre auch okay, aber für den ist die Farbe inzwischen auf Rot gewechselt.

Berlinale, das heißt für mich auch immer irgendwie, zum Zwangskäufer zu werden. Es fällt mir schwer den Schalter zu verlassen, ohne ein Ticket mitgenommen zu haben. Manchmal überkommen mich solche Anwandlungen. So habe ich schon hässliche Hemden erworben, die ich nie anziehe, und eine Menge Langspielplatten, bei denen mir einfach das Cover gefiel.

Hier, auf dem runtergerockten roten Teppich beim Ticket-Sale, bedeutet es, Gefahr zu laufen, einen Experimentalfilm um Mitternacht zu erwischen. Aber ich habe Glück. Es gibt noch „Tiger Girl“ zu probater Zeit, die Kritik dazu hatte mich neugierig gemacht. Einen Klassiker nehme ich auch noch mit, „Soy­lent Green“, man gönnt sich ja sonst nichts.

Am pinken Fieberthermometer vorbei fahre ich zurück. Am nächsten Tag sollte man unbedingt noch mal einen kleinen Abstecher zum Potsdamer Platz einplanen. Vielleicht gibt’s dann ja wieder Hader. Jens Uthoff