MOFAS AUS HANNOVER, BRILLEN IM SAAL, FIBRILLEN AM HIMMEL, SUPPE STATT VAN DYKE PARKS: Jenseits der Schranktür
VON RENÉ HAMANN
Leute verschwanden im Schrank. Die Tür ging auf, die Leute steckten die Köpfe rein, schoben ihre Körper hinterher. Die Tür ging zu, die Tür ging auf, die nächsten Leute stiegen in den Schrank, manchmal kamen auch welche heraus. Neben dem Schrank stand eine übergroße Zimmerpflanze, daneben ein abgeschlossenes Klavier. Die Geburtstagsgäste sammelten sich in der Mitte des Raums. Die mit der zunehmenden Zahl an Geschenken war das Geburtstagskind. Eine Frau war die Exfreundin eines unglücklich Verliebten, dessen neues Objekt nur Freundschaft wollte; das Objekt und die Exfreundin grüßten sich. Sie sahen fast gleich aus, nur die Haarfarbe war entgegengesetzt.
Draußen wartete jemand im Taxi, mit einem Glühen im Herzen. Jemand war zu früh gegangen, jemand, der beauftragt war, für Komfort zu sorgen, schaute auf der Straße nach und fand nichts. Es flogen Brillen über die Stadt. Die Stadt ist einfach zu groß, überall lauerten riesige Kleiderschränke, in denen die Menschen für Stunden, für Wochen, für Monate, für immer und gänzlich einfach verschwanden, immer und immer wieder.
Warnung vor Wodka
Wodka, keine Zigaretten. Trotzdem mit einem Kater aufgewacht. Wodka setzt das Grübeln in Gang, man ist plötzlich wieder aufgekratzt, wo man sich eben noch mit Bier fleißig in Entspannung getrunken hatte. Warnung vor Wodka. Vor allem wenn er nicht gut ist.
Die Geburtstagsfeier verlagerte sich in den Keller, jenseits der Schranktür. Muff, schwarzer Boden, dosige Musik, Menschen, die Flaschen in den Händen hielten, das Übliche. Themensuche. Kurz leuchtete ein weißes Licht durch das Kellerfenster in den Raum. Vereinzelt Tanzende.
Friedlich war der Nachhauseweg. Fern aller Tourismusrouten. Ein Taxi passierte, sonst nichts. Am nächsten Tag, es war schon Sonntag, gab es etwas Sonne. Auf dem Alexanderplatz, unter der Weltzeituhr, hatten Menschen einen kleinen Gedächtnisaltar eingerichtet. Für einen Torwart. Einen Nationaltorwart, der sich vor einen Regionalzug geworfen hatte. Die Trauerfeier lief live im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, ein Länderspiel war abgesagt worden, der Sarg wurde im Stadion aufgebahrt, circa 35.000 Menschen gaben dem Torwart die letzte Ehre. Der Torwart hatte Depressionen gehabt. Seine Trauerfeier war die größte seit der des ersten deutschen Bundeskanzlers.
Aus Narzissmus kommen
Die Sonne strahlte weiter, während viele Menschen mit Brillen in einem Saal saßen und sich neue Literatur anhörten. Wer weiß, wie viele Menschen hier Depressionen hatten. Manche waren vielleicht nur aus Narzissmus gekommen. Oder waren aus Narzissmus fortgeblieben. Gelassenheit schien plötzlich eine hohe Kunst. Jemand sagte, es lägen Fibrillen über der Stadt. Jemand anders erzählte, sie sei heute Morgen mit dem Mofa gekommen. „Mit dem Mofa, echt?“ „Nein, aus Hannover!“ „Oh, schade, mit dem Mofa, das wäre doch mal interessant gewesen.“
Am Abend wiederum lud jemand zu Erdnusssuppe. Jemand hatte alle Brücken gesperrt, und wir irrten mit dem Taxi herum, um einen Übergang zu finden. Jemand rief aus einer Telefonzelle aus an. Und meldete, sie würde sich jetzt mit dem Nebenbuhler treffen, wie einem das gefiele?
Ich hatte schlecht geschlafen. Jemand anderes erkundigte sich, wo die Passionskirche sei. Ich wusste es auch nicht genau. Van Dyke Parks sollte dort spielen, ich war der Suppe wegen verhindert. Sie war gut. Das Wochenende fand mit ihr einen komfortablen, schmackhaften und anregenden Abschluss.
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