Der Abgang des „Oma-Knutschers“

Für ihren scheidenden Bürgermeister Henning Scherf sucht die Bremer SPD einen Nachfolger. Der steht vor fast unlösbaren Aufgaben wie der Sanierung des Haushaltes, die Scherf – bei all seiner Popularität – zehn Jahre lang vernachlässigte

AUS BREMEN KAY MÜLLER

Vor ein paar Tagen hat er noch angekündigt, dass das Ergebnis der Bundestagswahl eine „personelle Erneuerung“ in Berlin fordere – nun hat er diese Erneuerung zu Hause selbst vollzogen: Bremens Bürgermeister Henning Scherf (SPD) hat am Donnerstagabend überraschend seinen Rücktritt angekündigt.

Er werde bald 67 Jahre alt, sagte er auf dem Landesparteitag seiner Partei. „Ich bin schon immer für Arbeitszeitverkürzung gewesen, das will ich jetzt auch für mich in Anspruch nehmen.“ Er wolle nicht mit den Füßen zuerst aus dem Rathaus getragen werden. Für seine kurze Rede erntete Scherf stehende Ovationen seiner Genossen.

Das war nicht immer so. In den vergangenen Monaten versank das kleinste Bundesland in einer Art Dornröschenschlaf. Scherf vergrub sich mit einem engen Kreis von Mitarbeiterin mehr oder weniger hinter den schweren Türen des Rathauses. Das hoch verschuldete Bremen wurde quasi nicht mehr regiert. Scherf vertraute auf seine Volksnähe, die dem „großen Umarmer“ und „Oma-Knutscher“ noch vor zweieinhalb Jahren einen fulminanten Wahlsieg bei der Bürgerschaftswahl beschert hatte. Schon damals hatte er seinen Rücktritt für die Mitte der Legislatur angekündigt, widerrief diesen allerdings vor einem Jahr – ohne sich mit Partei und Fraktion abzustimmen.

Die Genossen verstanden ihren Bürgermeister nicht mehr. Zunehmend selbstherrlich agierte der einstige Architekt der großen Koalition, der nach dem Rücktritt seines Vertrauten, des CDU-Wirtschaftsministers Hartmut Perschau, auch keinen Draht mehr zu seinem Koalitionspartner fand. Dennoch hielt Scherf unbeirrt an diesem Regierungsbündnis fest – auch wenn viele Sozialdemokraten mittlerweile lieber heute als morgen eine rot-grüne Koalition bilden wollen, für die es ebenfalls eine Mehrheit im Landesparlament gäbe. „Die politische Lähmung in unserem Stadtstaat wird nicht allein durch einen Wechsel an der Regierungsspitze überwunden“, meint denn auch der grüne Landesvorstandssprecher.

Viele Bremer glauben, dass eine neue Koalition die einzige Chance für das Land sei, aus der Krise herauszukommen. Denn Scherfs Bilanz nach zehn Jahren großer Koalition ist erschütternd: Das Land hat über elf Milliarden Euro Schulden, jedes Jahr kommt eine weitere Milliarde dazu, in den nächsten Wochen wird über den Doppelhaushalt 2006/07 beraten. Bremen hat 8,5 Milliarden Sanierungshilfe des Bundes in den Strukturwandel investiert – vergleichbare Städte wie Dortmund oder Nürnberg können nur neidisch sein. Bei den harten Kennziffern – Arbeitslosigkeit, Staatsverschuldung ist trotzdem keine Besserung eingetreten, weitere Finanzhilfen sind nicht zu bekommen. Die große Koalition unter Scherf hat das Ziel nicht erreicht, das die Rechtfertigung dieses Regierungsmodells war und ohne Not die parlamentarische Opposition weitgehend ausschaltete.

Der neue Bürgermeister steht vor vielen Aufgaben: Er muss die Kommunikation mit der CDU suchen, darf die Interessen der Partei nicht vernachlässigen, die zu große Sparanstrengungen im Sozialsektor nicht tolerieren wird. Dazu muss sich ein neuer Bürgermeister profilieren, um den volksnahen Henning Scherf in der nächsten Wahl zumindest ansatzweise ersetzen zu können.

Das Kandidatenkarussell rotiert schon munter in der Stadt. Der Fraktionsvorsitzende Jens Böhrnsen und der Bildungssenator und Ex-Manager von Werder Bremen Willi Lemke gelten als aussichtsreichste Aspiranten auf den Chefsessel. Die Bremer SPD-Führung will sich bis heute Abend auf einen Kandidaten verständigen. Gelingt das nicht, wird es vermutlich eine Mitgliederbefragung geben, um „dem Kandidaten die größtmögliche Legitimation für die kommenden Aufgaben“ zu verschaffen, wie es SPD-Landeschef Carsten Sieling ausdrückt. Das kann für die Sozialdemokraten nur bedeuten, dass sie bei den Bürgerschaftswahlen ihr gutes Ergebnis von vor drei Jahren halten. Schwierig genug, denn Experten beziffern den „Scherf-Faktor“ mit fünf Prozent und mehr.

Und Scherf selbst? Er wirkt gelassen, irgendwie erleichtert. Er tritt von der Bühne des Parteitages ab, Wortmeldungen gibt es nicht. Die Genossen klatschen. So mögen sie ihren Bürgermeister wieder.