Künstlerisch wertvoll, aber …

CHAMPIONS LEAGUE Borussia Dortmunds lotet die Launenhaftigkeit des Fußballs aus und verliert trotz drückender Überlegenheit mit 0:1 bei Benfica Lissabon

Habe die Ehre! Der glücklose Marco Reus mit einer spontanen Verbeugung vor Trainer Thomas Tuchel Foto: ap

aus Lissabon Florian Haupt

Thomas Tuchel atmete kurz durch und überlegte. Der Dortmunder Trainer denkt wirklich nach, er flüchtet sich nicht in einfache Weisheiten, selbst wenn er wenige Minuten nach einem dämlich gelaufenen Spiel die Lissabonner Lokalrivalen Benfica und Sporting vergleichen soll.

In diesem Fall gelang es ihm, sowohl ein hohes Abstraktions­niveau zu erreichen („Beide können fließend, ästhetisch angreifen, portugiesische Tradition“) als auch seine Botschaft des Abends zu unterstreichen: „Deshalb bin ich ja so glücklich über unsere Leistung!“ Gegen Sporting hatte der BVB zweimal gewonnen. Gegen Benfica dominierte er und verlor 0:1. Ist das ein Fortschritt oder ein Rückschritt? Manchmal sind die einfachsten Fragen die schwersten.

„Es gibt keinen anderen Weg, als uns über die Leistung zu definieren“, versuchte es Tuchel. Trainer halten sich gern an den Prozess, die Entwicklung. Logisch, es ist das Einzige, das sie rational beeinflussen können. Doch der Fußball hat es oft nicht so mit der Vernunft. Da drischt etwa Pierre-Emerick Aubameyang, einer der besten Stürmer der Welt, in Lissabon zweimal freistehend übers Tor und schießt bei einem Elfmeter den Keeper an. Dann ist es eben auch der Trainer, der mit solchen Unwägbarkeiten umgehen muss.

Christoph Daum lehrte seinem Angreifer Ulf Kirsten einst die „Staubsaugervertreter-Mentalität“. Er sollte es immer wieder versuchen, wie eine lästige Drückerkolonne. Man muss nicht an solchen Hokuspokus glauben, um bemerkenswert zu finden, dass Tuchel das exakte Gegenteil tat. Aubameyang, der wertvollste Spieler dieses BVB, durfte nicht mehr weiter an der Tür klingeln. Er musste drei Minuten nach dem verschossenen Elfmeter vom Platz.

Die Fußballgeneration Daum war entsetzt. „62. Minute! Wirklich?!“, twitterte Michael Ballack: „Das sind die Momente, wo du zu 100 Prozent hinter deinen großen Spielern stehen musst.“ Ex-BVB-Grande Ottmar Hitzfeld haderte: „Ich habe immer an meinen Topstürmern festgehalten. Wenn einer einen Elfmeter verschossen hat, dann habe ich ihn erst recht drin gelassen.“ Tuchel hingegen argumentierte wie Tuchel, analytisch, direkt, kühl: „Er hat von der Körpersprache her nicht den Eindruck gemacht, als würde er nur darauf warten, die nächste Chance reinzumachen.“

Jetzt zieht der BVB ins Heimspiel gegen Wolfsburg nicht nur vor eine leere Südtribüne, sondern auch mit einem gedemütigten Star, und die Episode passt ins Muster der Frontlinien, die sich bei Borussia Dortmund seit Monaten vertiefen und inzwischen für so viel Anspannung sorgen, dass es Fanrandale und Kurvenembargo gar nicht gebraucht hätte. Hier ein hochbegabter Trainer, der als Fußballvisionär gefeiert wird, dort ein Milieu, dem dabei die Gewissheiten fehlen. Seinen besten Angreifer lässt man nun mal auf dem Platz, selbst wenn er ständig mit seinen Interviews und Real Madrid nervt.

„Wie die feiern – die denken wahrscheinlich, sie hätten gut gespielt“

BVB-Keeper Roman Bürki über Benfica

Vielleicht ist Tuchels Management der ungreifbaren Faktoren seine Schwäche. Doch Dortmunds Krise ist jetzt auch beim Greifbarsten angekommen, das es im Fußball gibt – den Ergebnissen. Nur ein Sieg in den letzten acht Auswärtsspielen, nur zwei in den letzten zehn insgesamt (Elfmeterschießen ausgenommen). Dafür in Lissabon reichlich präpotente Sprüche wie von Torwart Roman Bürki („Wie die feiern – die denken wahrscheinlich, sie hätten gut gespielt“) oder Verteidiger So­kra­tis: „Wenn wir noch einmal so spielen, wird das nicht schwierig für uns, sondern es wird sehr schwierig für Benfica.“ Sportdirektor Michael Zorc schien seinen Ohren nicht zu trauen. „Ich möchte das erst mal sehen“, sagte er im Hinblick auf das Rückspiel.

Es wird dann um eine Menge gehen, um den Rest von Vereinsfrieden, aber auch um Karrie­rechancen der zwei BVB-Top­exponenten, Aubameyang und Tuchel. Am selben Abend ereignete sich ja auch in Paris der Urknall eines möglichen Epochenwechsels. Der FC Barcelona, identitätslos, ohne Mittelfeldspiel, ging 0:4 bei PSG unter, und der seit Monaten schwelende Unmut äußerte sich in einem Schrei gegen Trainer Luis Enrique. Ohne ein Wunder im Rückspiel dürfte es mit ihm zum Saisonende vorbei sein, und spätestens dann wird wie bereits jetzt bei den artverwandten Ästheten von Arsenal auch der Name des in Spanien hoch gehandelten Tuchel auftauchen. „Profil Barça“, attestierte seinem Trainer schon der im katalanischen Weltklub ausgebildete Verteidiger Marc Bartra.

Um kurz beim Gedankenspiel zu bleiben: Tuchel würde im Ideenlaboratorium Barcelona ein freundlicheres Umfeld für seine Experimente vorfinden als im fußballerisch konservativen Ruhrgebiet. Lionel Messi sollte er trotzdem nicht auswechseln.