Mursis Macht spaltet Ägypten

DEMOKRATIE Der ägyptische Präsident hat mit seinem Dekret den Bogen überspannt. Die Muslimbrüder sind die Verlierer im Streit um das Recht

KAIRO taz | Der ägyptische Präsident Mohammed Mursi hat sich in eine Situation manövriert, aus der er und seine Muslimbrüder nicht heil herauskommen werden. Nimmt er das umstrittene Dekret zurück, in dem er seine Entscheidungen über das Gesetz stellt, dann ist das für ihn eine Niederlage, die dem öffentlichen Druck geschuldet ist. Zieht er das Ganze durch, dann droht die Lage in Ägypten zu eskalieren. Für die Opposition ist die Rücknahme des Dekrets zum gemeinsamen, einigenden Nenner geworden.

Bei den Parlamentswahlen Anfang des Jahres hatten die Muslimbrüder die Hälfte der Stimmen der Ägypter erhalten. In den Präsidentschaftswahlen im Sommer war Mursi gerade einmal von einem Viertel der Wahlberechtigten gewählt worden. Sein Sieg gegen Ahmed Schafik, den Vertreter des alten Regimes, fiel äußerst knapp aus. Das ist keine solide Basis, um jetzt einen Machtkampf mit allen anderen politischen Strömungen durchhalten und für sich entscheiden zu können.

Zudem ist die Zustimmung der Ägypter für die Muslimbrüder in der letzten Zeit vermutlich eher gesunken. Denn das Land ist weder politisch noch wirtschaftlich entscheidend vorangekommen, seit die Islamisten das – inzwischen aufgelöste – Parlament dominieren und den Präsidenten stellen. Die Menschen am Nil beginnen ungeduldig zu werden.

Mursi und seine Brüder glaubten offenbar, sie könnten mit ihrer Machtausweitung erfolgreich die Flucht nach vorn antreten. Der Zeitpunkt, dachten sie, sei günstig, hatte Mursis internationales Ansehen doch gerade durch die Vermittlung eines Waffenstillstands zwischen der Hamas und Israel einen ungeahnten Höhepunkt erreicht.

Dabei haben sie sich offensichtlich verkalkuliert. Die Richter streiken aus Protest. Menschen demonstrieren. Die Opposition war sich seit ihrem erfolgreichen Kampf gegen den Obersten Militärrat noch nie so einig. Die nächsten 48 Stunden könnten entscheidend dafür sein, wohin Ägypten steuert.

Ginge es Mursi tatsächlich darum, wie er sagt, „die Revolution voranzubringen“, Institutionen wie Staatsanwaltschaft und andere Justizbehörden von den Resten des Mubarak-Regimes zu säubern und alle Prozesse gegen deren Vertreter neu aufzurollen, dann wäre es für ihn ein Leichtes gewesen, ein breites Bündnis aufzustellen. Stattdessen argumentiert er zum Misstrauen aller anderen Strömungen, der Präsident müsse das im Alleingang durchziehen, indem er sich diktatorische Rechte zugesteht.

Jetzt ist alles offen und möglich: Die Muslimbrüder könnten es auf eine Konfrontation ankommen lassen, von der sie sich ausrechnen können, dass sie diese nicht gewinnen werden. Mursi könnte seinen Entschluss zurückziehen. Um sein Gesicht zu wahren, könnte der Präsident auch einen Kompromiss anbieten. Mursi könnte zudem zusichern, dass den Opfern von Polizeigewalt Gerechtigkeit wiederfährt. Es wäre ihm möglich, den Findungszeitraum für eine neue Verfassung zu verlängern, um einen gesellschaftlichen Konsens zu finden. Gleichzeitig müsste er aber seine neuen Pharao-Allüren und die gesetzliche Immunität seiner Entscheidungen wieder zurücknehmen. Das könnte er politisch überleben.

Wenn die letzten Tage in Ägypten etwas bewiesen haben, dann dass die Mehrheit der politischen Kräfte keinen neuen Pharao mehr zulassen wird – egal ob dieser nun Mubarak, Oberster Militärrat oder Mursi heißt. Für die heiß umkämpfte demokratische Entwicklung des bevölkerungsreichsten arabischen Landes ist das eine gute Nachricht.

KARIM EL-GAWHARY