vom taubennest zum maßgeschneiderten gitter
: S-Bahnhof Schönhauser Allee

Wie viele Stunden meines Lebens habe ich am S-Bahnhof Schönhauser Allee gestanden, auf eine Bahn gewartet und dabei missmutig die Gleise betrachtet? Für mich als Bucher war dieser Bahnhof immer das Tor zur Stadt, das Nadelöhr in ein spannenderes Leben, das man sich im Prenzlauer Berg zusammenfantasierte, auch wenn man nicht genau wusste, wo die berühmten illegalen Partys und Konzerte überhaupt stattfanden, weil niemand die Bucher darüber informierte, wo der Treffpunkt war, wenn man zum Underground wollte.

Beim ersten Kinobesuch überhaupt, im Colosseum wurde gerade ein großartiger Film über einen grünen Frosch gezeigt, stieg man hier aus. Schon damals stand vor dem Bahnhof, wie fast immer in den folgenden Jahren, ein junger Mann mit einem Bündel großer Kugeln in der Hand, selbstgebastelten Lampenschirmen, die er zum Verkauf anbot. Es war mir immer ein Trost, wenn ich hier auf dem Weg zur Schule in die U-Bahn umstieg, dass man in der DDR zur Not auch überleben konnte, wenn man die Kunst des Lampenschirmbauens beherrschte.

Und wenn ich zum Deutschen Theater wollte und daher auf der anderen Seite der S-Bahn-Brücke auf die gelbe Straßenbahn wartete, konnte ich das Schild studieren, auf dem in verschiedenen Sprachen an die Opfer des Faschismus erinnert wurde: „Vous, qui passez, honorez la mémoire de ceux, qui sont morts, pour que vous puissiez vivre!“ Aber wie honorierte man als 15-Jähriger die Erinnerung an die, die gestorben sind, damit man selbst leben konnte? Und für wen stand das hier auf Französisch? Und war „puissiez“ einer dieser gefürchteten Subjonctifs?

Wenn man abends nach der Schule wieder am Bahnhof Schönhauser ankam, hörte man schon von weitem den fliegenden Zeitungsverkäufer rufen: „BZ am Abend! BZ am Abend!“ Man kaufte sich das Blatt für 10 Pfennige, die Gerichtsberichte waren gut, und einmal in der Woche gab es eine Übersicht über die Veranstaltungen in den Jugendclubs Ostberlins. Zwischen den Zeilen fand man die Auftritte der sogenannten „anderen Bands“, einer Art DDR-New-Wave.

Eines Tages wurden die Löcher in der Bahnhofswand aus Backstein, in denen Tauben nisteten, mit kleinen, maßgeschneiderten Gittern versperrt, die heute noch dort hängen. Gegenüber konnte man den Querschnitt eines Hinterhofs sehen, mit der Eingangstür eines Kostümverleihs.

Jeden zweiten Sonnabend machten die BFC-Dynamo-Fans, die zum Heimspiel im Jahn-Sportpark wollten, den Bahnsteig unsicher. Nach dem Spiel sammelten sie sich wieder hier und skandierten: „Scheiß Union! Scheiß Union!“ Ich hatte immer Angst, von ihnen aus Versehen auf die Gleise geschubst zu werden, und außerdem wusste ich noch nicht, was „Union“ war. Jedenfalls reimte es sich offenbar auf „Scheiße der Nation!“.

Die BZ am Abend gibt es nicht mehr, sie hat sich gleich nach der Wende in Berliner Kurier umbenannt und völlig den Charakter geändert. Ein Fahrstuhl ist gebaut worden, dessen Ansage eigenartigerweise schwäbelt. Der Kostümverleih ist verschwunden, und dem Bahnhof hat man die Schönhauser Allee Arcaden auf den Kopf gesetzt. Aus dem einen Zeitungsverkäufer ist eine ganze Bande von Wegelagerern geworden, die sich auf einen stürzt, wenn man hier aussteigt, und die einem die verschiedensten Zeitungs-Abos und Naturschutzvereinsmitgliedschaften andrehen will.

Sogar auf dem Bahnhof selbst kann man Zeitungen kaufen oder Kaffee und Schokoriegel am Automaten. Damals waren Bahnhof und Einkaufen getrennte Welten, man hätte sich mit den Ratten um die auf den Gleisen liegenden Stullenreste und Apfelgriebsche streiten müssen, um im Notfall zu überleben, wenn man den letzten Zug verpasst hatte und nicht mehr zurück nach Buch kam.

Ende der Achtziger kam es einmal zu einem Zwischenfall, als einer der gusseisernen Pfeiler einknickte, auf denen das alte Holzdach des Bahnhofs ruht. Das halbe Dach stürzte ein. Wir sahen es auf dem Weg zur Schule und lächelten sarkastisch. Jetzt fielen uns schon die Dächer auf den Kopf! Das Ende war wirklich nah … Ein paar Monate später, im Herbst 89, wurde der Bahnhof plötzlich zum Ausgangspunkt für die Besuche der Fürbitt-Gottesdienste in der Gethsemanekirche, die sich schnell zu Massenveranstaltungen entwickelten, bei denen unter anderem die Gründung unabhängiger Naturschutzvereine und Zeitungen gefordert wurde.

An den Wänden des Bahnhofsgebäudes tauchten plötzlich Plakate und Anschläge auf – bisher wäre es ein Unding gewesen, irgendwo selbst etwas aufzuhängen: Alles Inoffizielle wurde sofort entfernt. Deshalb war man so darauf geeicht, auf jeden Schnipsel zu achten, und anfangs so anfällig für die viele Werbung. Man war es ja gewohnt, die Gegend mit Blicken abzuscannen, um keine Informationen zu verpassen. Jetzt war der Bahnhof gepflastert mit Werbung für die vielen neuen Parteien und dazwischen gab es schon die ersten Sri-Chimnoy-Poster, die in den letzten 15 Jahren regelmäßig erneuert wurden. JOCHEN SCHMIDT