: Die Stadt unter der Autobahn
Aus anderen Städten ziehen Menschen und Unternehmen weg, Ludwigsfelde dagegen brummt. 15 Jahre nach der deutschen Einheit ist die Industriestadt im Süden Berlins die Boomtown Brandenburgs
VON UWE RADA
„Ja, das Zentrum …“ Heinrich Scholl lehnt sich zurück in seinen Bürgermeistersessel und guckt nach draußen. Dort reihen sich ein paar Häuser die Hauptstraße von Ludwigsfelde entlang, unter ihnen das Kulturhaus aus der Stalinzeit. „Nach der Wende hat es mich geärgert, dass wir keine Altstadt haben und kein Flair“, sagt Scholl. „Doch bald war klar, dass das auch seine guten Seiten hat.“ Zu den guten Seiten, meint der Industrieplaner, den die Wende auf den Bürgermeistersessel hob, „zählte, dass wir uns nicht wie andere Städte mit irgendwelchen Alteigentümern herumplagen mussten. Das meiste gehörte uns selbst. Wir konnten einfach loslegen.“
Ludwigsfelde ist eine Stadt ohne Vergangenheit, dafür aber mit umso mehr Zukunft. 24.000 Einwohner, 600 Betriebe, 10.000 neue Arbeitsplätze seit der Vereinigung, das kann sich sehen lassen. Im Ranking der bundesdeutschen Standorte belegt die Industriestadt im Süden Berlins einen der vorderen Plätze. DaimlerChrysler fertigt hier seinen Sprinter, MTU wartet Triebwerke, VW baut gerade ein neues Logistikzentrum. An der A10 befindet sich, was Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) einen Wachtstumskern nennt. Viele davon hat Brandenburg nicht, das weiß auch Heinrich Scholl. „Im Grunde“, sagt er selbstbewusst, „befinden wir uns auf geradem Wege zwischen Paris und Moskau.“ Soll heißen: Aus der Perspektive des Berliner Rings liegen selbst Potsdam und Berlin im Abseits.
Überhaupt, der Berliner Ring. Zwischen den Anschlussstellen Ludwigsfelde-West und Ludwigsfelde-Ost führt die A10 mitten durch die Stadt, gestützt auf sechs Meter hohe Pfeiler, zwischen beiden Fahrtrichtungen eine Lücke von zehn Metern, unter der Autobahn viel Grün, Schotterwege, Halfpipe. „Das ist jetzt unser Zentrum“, sagt Bürgermeister Scholl und meint es ernst. Früher verlief die Autobahn auf einem Damm und zerschnitt die Stadt. Von einer Seite zur andern ging es nur durch einen schmalen Tunnel. Jetzt ist alles offen und aus der Not eine Tugend gemacht. „Die Autobahn ist der Grund für unsern Erfolg, warum sollen wir unter ihr nicht die Stadtmitte bauen?“ Disko, Bowlingbahn, Kongresszentrum, all diese „Zentrumsfunktionen“ will Scholl künftig unter der A10 ansiedeln. Das Stadtfest findet schon seit drei Jahren unter der Brücke statt.
In Ludwigsfelde, dem märkischen Dorf, das erst mit der Ansiedlung des DaimlerBenz-Flugmotorenwerkes 1936 und dem Bau der dazugehörigen „Volkswohnungen“ zur Stadt wurde, gehört das Standortdenken zum alltäglichen Geschäft. Das gilt sogar für die Kultur, für die in der brandenburgischen Boomtown die Stiftung Schloss Genshagen zuständig ist. „Unsere Lage“, sagt deren Geschäftsführer Dieter Rehwinkel, „ist äußerst günstig. Wir liegen zwischen Potsdam, Berlin und der Natur.“ Das haben auch Bundeskanzler Gerhard Schröder und der französische Staatspräsident Jacques Chirac zu schätzen gewusst, als sie im Februar 2004 im Schloss Genshagen zu ihrem turnusmäßigen deutsch-französischen Gespräch zusammenkamen. Im Schloss finden nämlich nicht nur Kulturveranstaltungen statt. Es ist auch der Sitz des Berlin-Brandenburgischen Instituts für Deutsch-Französische Zusammenarbeit. Inzwischen gehört Genshagen zu Ludwigsfelde und ist zu drei Seiten vom „Brandenburg-Park“ umzingelt, dem jüngsten der sechs Ludwigsfelder Industriegebiete. Dort haben zahlreiche Firmen, unter anderem Coca-Cola, ihre Logistikzentren errichtet. „In der Gründungsphase des Parks“, erzählt Rehwinkel, „sind die Developer mit dem Hubschrauber über Berlin und Brandenburg geflogen und haben entschieden: Hier ist der beste Standort.“
Wenige Kilometer entfernt warten im Industriepark West seit 1991 540 Mitarbeiter der MTU-Maintenance Triebwerke von Passagierflugzeugen und Autofähren. Anders als der Brandenburg-Park ist der Standort im Norden von Ludwigsfelde fast schon einer mit Tradition. Nachdem das Flugzeugmotorenwerk im Krieg zerstört worden war, siedelte sich 1952 der VEB Industriewerke Ludwigsfelde auf dem Gelände an. Die hervorragend ausgebildeten Fachkräfte waren für MTU ein entscheidendes Argument, nach der Wende neben München und Hannover ein drittes Werk zu eröffnen. Das andere Argument nennt Geschäftsführer André Wall. „Die Zusammenarbeit mit den Entscheidungsträgern in der Region verläuft sehr kooperativ.“
Bürgermeister Scholl weiß, dass das nicht nur Unternehmerprosa ist. Mit viel Energie hat er sich dafür eingesetzt, dass das neue MTU-Prüfwerk in Rekordzeit gebaut werden konnte. „Natürlich kann ein Bürgermeister keine Baugenehmigungen erteilen“, sagt er, „das macht der Landrat.“ Wohl aber kann er mit dem Landrat an einem Strang ziehen und die Probleme aus dem Weg räumen, bevor sie entstehen. Zwei Monate, heißt es seitdem, muss ein Unternehmer in Ludwigsfelde auf die Baugenehmigung warten. In anderen Städten kann das Jahre dauern.
Ist also doch nicht alles eine Frage des Standorts, sondern auch der richtigen Politik? Scholl sagt es so: „Natürlich haben wir oft den richtigen Riecher, zum Beispiel mit den Logistikzentren. Auf Industrie kann auch eine Stadt wie Ludwigsfelde nicht mehr allein bauen.“
Und auf Logistikzentren auch nicht. Deshalb stampft die Stadt derzeit ein Wellness- und Spaßbad aus dem Acker, für 18 Millionen Euro. Weil zum Zeitpunkt der Planung vom Platzeck-Wort der „Konzentration auf Wachstumskerne“ noch keine Rede war, baut Ludwigsfelde einfach so, ohne Landesmittel. Von den 18 Millionen Euro Baukosten übernimmt die Stadt 11 Millionen. Erstmals gibt es deshalb auch Kritik am Bürgermeister, doch Heinrich Scholl gibt den Optimisten. „Wir haben noch nie ein Projekt in den Sand gesetzt.“
Aber auch in Ludwigsfelde könnte das Tempo einmal stocken. Unter der Autobahnbrücke, dem neuen Zentrum der Stadt, wird auch in Zukunft viel Platz für Radler und Spaziergänger sein. Ein Investor für Bowlingbahnen, Disko und Kongresszentrum hat sich bislang nicht im Rathaus gemeldet. Und das trotz des hervorragenden Standorts mit dem Berliner Ring nur sechs Meter darüber.
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