Fotografie als Soziologie

Kunst Die Galerie Berinson widmet dem Fotografen August Sander eine Werkschau– ein Déjà-vu fürs kulturelle Gedächtnis

August Sanders „Der Konditor“ (1928) Foto: Galerie Berinson, Berlin (Copyright für sämtliche Photographien © Die Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur-August Sander Archiv, Köln; VG Bild-Kunst, Bonn 2017)

Der Konditor mit rundem Vollmondgesicht und Glatze, im weißen Kittel, mit der Schüssel in der Hand in der Backstube posierend, ist eine der vielen fotografischen Ikonen, die der große Fotograf August Sander (1876 – 1964) hinterlassen hat.

Das Porträt hängt aktuell in einer Sander-Schau der Galerie Berinson, in der man jede Menge Déjà-vu-Erlebnisse hat und Aufnahmen wiederentdecken kann, die ins kollektive kulturelle Gedächtnis eingegangen sind: zum Beispiel die drei Bauern auf dem Landweg, mit Spazierstöcken in der Hand, Hüten auf dem Kopf und in Anzüge gehüllt („Jungbauern, 1914“) oder auch die „Bauernkapelle“(1913).

Sie alle stammen aus August Sanders berühmter Porträtreihe „Menschen des 20. Jahrhunderts“. Darin hat er versucht, Soziologie mit den Mitteln der Fotografie zu betreiben. Er hat Menschen aus verschiedenen Schichten („Landproletarierkinder“, „Bürgerkind“, „Kleinstadtbürger“) in alltäglicher Umgebung fotografiert, er hat Personen in ihren Berufen und mit entsprechender Berufskleidung porträtiert. Die Ergebnisse sind imposant, immer wieder aufs Neue.

Körper wie Fremdkörper

In der Galerie Berinson sieht man jetzt 70 Werke aus der Serie, August Sander noch selbst konzipiert hat. Galerieinhaber Hendrik A. Berinson, dessen Ausstellungsräume neuerdings in der Charlottenburger Schlüterstraße sind, hat die Reihe von der Wiener Galerie Faber entliehen. Verkauft werden die Werke nicht einzeln, sondern nur als Sammlung – sie dürfte sehr, sehr teuer sein.

Der kürzlich verstorbene Kunstkritiker und Schriftsteller John Berger hat Sanders Werk am treffendsten analysiert. In Bezug auf die „Jungbauern“ beim Wochenendausflug in schlecht sitzenden Anzügen schrieb er etwa, dass ihre Körper wie Fremdkörper in den weiten gebügelten Hosen und den langen Jacketts wirken.

Sander wollte Gesellschaft in seinen Bildern klassifizieren, und an vielen Beispielen der meist in den 1910er und 1920er Jahre entstandenen Porträts kann man sehen, wie gut das gelang. Klassenzugehörigkeit und Berufsgruppen sind überwiegend an äußeren Merkmalen erkennbar – man schaue sich etwa auf den Fotos die Hände der Arbeiter, der Putzfrau und des Tenorsängers an.

In seiner Rezeption hat die Reihe „Menschen des 20. Jahrhunderts“ gelehrt, wie man Fotografien zu lesen hat, wie genau man sie betrachten muss – John Berger exerzierte das exemplarisch. Dessen Buch „Der Augenblick der Fotografie“ sei als Begleitlektüre empfohlen.

Jens Uthoff

Galerie Berinson, Schlüterstraße 28, noch bis zum 30. April, Di. bis Sa., 11 bis 18 Uhr