Die Mörder sind immer die anderen

KRIMINALBERICHT Als Friedrich Schiller „Verbrecher aus verlorener Ehre“ schrieb, war seine Kritik am Rechtssystem ungewöhnlich und radikal. Simon Solberg inszeniert den Text am Deutschen Theater als verspieltes Experiment

Kleider und Rollen wechseln die Schauspieler so rasch wie Micky Maus auf Speed

VON BARBARA BEHRENDT

Ganz unbestreitbar: Simon Solberg ist ein Garant für vergnügliche Theaterabende, das hat der Regisseur erneut am Deutschen Theater Berlin bewiesen. Der Unterhaltungswert seiner jüngsten Inszenierung ist allerdings so groß, wie sein Erkenntnisgewinn bescheiden ist.

Nach seiner verwitzelten Inszenierung von Oliver Klucks wutschnaubendem Stück „Warteraum Zukunft“ nahm Solberg sich jetzt, nicht zum ersten Mal, Schiller vor. Und zwar die frühe Kriminalerzählung „Der Verbrecher aus verlorener Ehre“ – ein radikaler Text über einen jungen Menschen, den die Verhältnisse kriminell werden lassen. Weil der missgestaltete, gedemütigte Christian Wolf glaubt, die schöne Johanne mit Wohlstand beeindrucken zu können, wird er zum Wilddieb. Die traumatischen Jahre im Kerker zerstören ihm alle Wege zurück in die Gesellschaft, nun möchte er „Böses tun, um sein Schicksal zu verdienen“; Wolf wird zum Mörder und Räuberhauptmann und endet am Galgen.

Schiller, das war revolutionär, wollte nichts von der Tat wissen, sondern allein von dem Menschen, der sie begeht. Seine Kritik galt dem Rechtssystem, das diesen Menschen zerstört.

Solberg, Jahrgang 1979, inszeniert „nach Friedrich Schiller“ – und er inszeniert eine Art Wissenschaftler- und Medizinersatire: Fünf Forscher experimentieren in weißen Kitteln auf der Bühne, fast fühlt man sich erinnert an die Professoren-Bande aus der Ergo-Direkt-Werbung, die im ZDF das Wetter präsentiert. „Wie wird ein Mensch zum Verbrecher?“, wollen die Halbgötter in Weiß untersuchen, greifen zu Reclam-Heften und spielen Teile der Erzählung nach, unterbrochen von Interviews mit zwei ehemaligen Straftätern auf dem Videoscreen.

Das Tempo ist atemraubend: Kleider, Requisiten, Rollen wechseln die Schauspieler so rasch wie Micky Maus auf Speed. Daneben zieht Solberg reihenweise Scherzartikel aus dem Regal: Wird „der Blick geschärft“, lässt sich Elias Arens den Pfeffer ins Auge rieseln; „erkaltet“ der Betrachter, steckt Kathleen Morgeneyer einen Eiswürfel unter Christoph Frankens Hemd; bei einer „Neigung“ stehen sie alle windschief. Ist von Hungersnot die Rede, wirft Helmut Mooshammer sich die Schärpe „Miss Ernte“ über, Franken ist „Miss Lungen“.

Lustig kann man das schon finden, Konfetti eben. Die Bühne setzt ebenfalls auf Reizüberflutung: Über zwei Etagen hat Jelena Nagorni in den Kammerspielen ein Sammelsurium von Bildschirmen, Vogelkäfigen, Büchern, Plastikgehirnen aufgebaut – das Labor der verrückten Professoren. Und die Musik bläst ins gleiche Horn: gefühlt zweihundert Songs rauschen in hundert Minuten vorbei, Beasty Boys, Lindenstraße, Stille Nacht. Dazu je eine Textprise „Räuber“, „Kabale und Liebe“, „Werther“.

Die erste Stunde spult sich ab als gut geölter, überdrehter Jux. Solberg ist ein geschickter, routinierter Arrangeur der kleinen Gags, ein Spieler mit vielen szenischen Einfällen. Aber mehr als ein hübscher Zeitvertreib ist das nicht. Keiner der sonst hervorragenden Schauspieler hat den Raum, Konturen zu gewinnen. Christoph Franken bleibt als Wilddieb nur das arme Opfer – während Schillers Figuren doch (wie auch die „realen“ Menschen) gerade durch ihre Täter-Opfer-Ambivalenz an Spannung gewinnen. Die Regie ist überbeschäftigt, sie verzettelt sich mit Ausflügen in die Missstände der 1920er Jahre und die Finanzkrise von 2008.

Später wechselt die Stimmung. Die Straftäter Norman Bürger und Markus Pohle rücken via Videoprojektion ins Zentrum – sie sind die stärksten „Figuren“, sie haben wirklich etwas zu sagen. In der letzten Szene treten sie auf die Bühne und stellen das Modell eines liberalen Knasts vor. Solberg bebildert es sogleich mit Pappschäfchen und Strickmützen – das soll wohl auch ironisch sein.

Doch einen starken Moment hatte zuvor Helmut Mooshammer, als er einen Zeitungsbericht über die Misshandlung eines Häftlings durch dessen Mitgefangene vorliest. Wenn er davon liest, dass sie den Häftling erhängen, hält Mooshammer inne. Sein Apfel zerbirst so krachend zwischen den Zähnen, als breche andernorts ein Genick.

Indem er das Knastmartyrium dokumentarisch schildert und dabei durchweg sympathische Exhäftlinge präsentiert, ruft Solberg beim Publikum Mitleid ab und erzeugt „Betroffenheit“. So wird der Abend zuletzt eine Art Plädoyer für einen humanen Strafvollzug und eine bessere Resozialisierung – damit jedoch rennt er bei diesem Publikum nur offene Türen ein.

Schiller macht einem klar, dass in jedem von uns ein Mörder steckt. Bei Solberg sind die Mörder nur die anderen, denen wir unser Mitgefühl nicht versagen können.

■ „Verbrecher aus verlorener Ehre“ wieder am 30. 11. und 8./21./27. Dezember im Deutschen Theater