Eine technikaffine und philosophisch interessante Performance: „Blind Spot“ beim Lithuanian Dance Festival Foto: D. Matvejevas

Man muss sich verwandeln

Tanz Es geht noch immer um Befreiung in der zeitgenössischen Tanzszene aus Litauen. Das 4. Lithuanian Dance Festival in Berlin lässt das nächste Woche sehen und spüren

Von Katrin Bettina Müller

„Das waren Stars für uns, Balletttänzer, die wir schon als Kinder auf der Bühne bewundert haben. Wenn sie jetzt uns unterrichteten, an der Litauischen Akademie für Musik und Theater, dann durften keine Fragen gestellt werden, warum tanzt man das so, weshalb lernen wir diese Schritte.“ Dieser enorme Respekt, erinnert sich Birute Baneviciute, die heute als Choreografin für sehr kleine Kinder arbeitet, war der Kreativität und dem Verstehen von Tanz aber nicht dienlich.

Birute Baneviciute gehört zu den Künstlern aus Litauen, die für das am Mittwoch nächste Woche startende 4. Lithuanian Dance Festival nach Berlin kommen. Im Oktober 2016 saß sie mit drei Kolleginnen bei einer Tagung im Arts Printing House in Vilnius und diskutierte über „Digesting Dance for Children“. Dabei waren Annika Ostwald und Agnija Seiko, die auch nach Berlin kommen werden mit „Lucky Lucy“, einem side-specific walk, und Lina Puodziukaite, Dozentin für zeitgenössischen Tanz an der Akademie. 80 Prozent ihrer Energie, erzählte die Dozentin, fließt im ersten Jahr des Unterrichts mit den 14- bis 17-Jährigen in das Reden. „Sie sind so gepolt darauf, alles richtig zu machen, sie haben schon so viel in den Köpfen, was nicht hinterfragbar scheint, dass es ihnen schwerfällt, bei sich selbst anzukommen.“

Die Autorität des Ballettunterrichts und der repräsentative Rahmen dieser Kunst in den Zeiten, als Litauen Teil der Sowjetunion war, bilden die graue Eminenz im Hintergrund der jungen zeitgenössischen Tanzszene in Litauen. In­grida Gerbutavičiūtė ist die künstlerische Leiterin des Festivals. Sie hat 2013 den Lehrstuhl für Tanz und Bewegung an der Akademie für Musik und Theater übernommen und in einem neuen Studiengang auch erstmals zeitgenössischen Tanz als Fachrichtung etabliert. „Der litauische zeitgenössische Tanz ist sehr jung“, sagt sie, „da bis 1990 unter der Besetzung der Sowjetunion die moderne Art generell verboten war.“ Zudem machte die Herabsetzung als dilettantische Form Probleme.

Genormte Tradition

Die Mühen der neuen Etablierung wurden sichtbar an vielen Stellen während „Digesting Dance“, eines fünftägigen Treffens von Performern, Lehrern und Choreografen aus Litauen und Skandinavien in Vilnius im Oktober. Deshalb lief ein Teil der Vorträge in der pädagogischen Hochschule. Deshalb sehen viele der Künstlerinnen die Notwendigkeit, viel mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten, um sie für ästhetische Erfahrungen zu sensibilisieren, bevor eine genormte Tradition sie besetzt. Deshalb diskutierten an der Akademie Künstler und Theaterleiter über den schweren Stand der jungen Kunstform. Die Kulturpolitik könne sich Tanz nur als Unterhaltung denken, das Publikum erwarte narrative Formen und eine Rahmung mit bekannter Musik, den klassischen Aufführungsorten fehle es an Möglichkeiten der Begegnung von Künstlern und Publikum.

All das stand auf der Negativliste. Und doch konnten Choreografen und Künstler immer wieder von positiven Reaktionen und Überraschungen erzählen. „Ich verstehe es nicht, aber ich liebe es“, so bringen sie ein Echo vieler Besucher auf den Punkt.

„Was noch in den Köpfen ist“, immer wieder tauchte diese Formulierung auf, um sich gegen eine mächtige Tradition und prägende Vergangenheit zu wehren. Für Litauen, einen jungen Staat, ist das längst nicht nur im Tanz im Thema. Eine Führung durch die Altstadt von Vilnius machte dies auch im Blick auf das Stadtbild deutlich, geprägt von zahlreichen Kämpfen um Litauen und seine nationale Identität, gezeichnet von vielen Brüchen und Besetzungen.

Wenn Birute Baneviciute ein Stück für Kleinkinder bis drei Jahren macht, „Bunte Spiele“, das in Berlin im Rahmen des Festivals im Theater an der Parkaue laufen wird, dann eben auch, um vor den Altlasten anzusetzen. Mit Kugeln, Bändern und Reifen in Primärfarben lockt das Stück sein Publikum auf seinen kurzen Beinchen auf die Bühne, lässt sie in einladenden Konstellationen mitkrabbeln und mitspielen und dabei ästhetische Ordnungen entdecken. Das Lustigste ist, bei der Aufführung die staunenden Eltern zu beobachten, ihre Begeisterung über ihre Kinder, ihre Verblüffung oder auch ihre Probleme, nicht einzugreifen. Auch für sie ist das Stück gemacht.

Publikum ist weiblich

Aber der zeitgenössische Tanz in Litauen hat auch erfahrene und angesehene Choreografen wie Vytis Jankauskas, der seine Company 1997 gründete. Ihn konnte ich fragen, woran es liegen könnte, dass das Publikum der sechs Performances, die wir in Vilnius sahen, zu geschätzten 80 Prozent weiblich war. Es habe sich eben noch immer eine Machomentalität erhalten, von der Teil ist, dass Männer sich nicht für Kunst interessieren, denkt er. Obwohl sich seit der Umbruchszeit viel verändert habe, zum Beispiel viele Frauen studieren und an Universitäten arbeiten, bleibe ein traditionelles Rollenbild weiter wirksam.

Von Vytis Jankauskas stammt das gleich zum Festivalauftakt am Mittwoch im Dock 11 gezeigte Stück „Blind Spot“. Das ist eine technikaffine und philosophisch interessante Performance zweier Tänzerinnen, in der ihre Sichtbarkeit auf der Bühne mittels filmischen Bildern mit dem gekoppelt wird, was sie selbst von sich und vom Raum sehen, während sie tanzen.

Irritierend nahsichtige Bilder, die den Körper fragmentieren und verrätseln, tauchen dabei ebenso auf wie kontrollierende Kameraperspektiven. Extrem subjektive Wahrnehmungen werden mit Sichtweisen zusammengebracht, die von allem Persönlichen absehen wollen.

Jankauskas erzählt, dass er sich mit dem Philosophen ­Gilles Deleuze beschäftigt hat und dessen Frage, wie man sich der Kontrolle und der Überwachung entziehen kann. „Man muss sich verwandeln, unkenntlich werden“, das ist eine Strategie, die er dort gefunden hat und auf die sein Stück Bezug nimmt, wenn die Tänzerinnen im letzten Teil Metamorphosen durchlaufen und in ihre raffinierten Kostümen abtauchen.

Das 4. Lithuanian Dance Festival in Berlin startet am Mittwoch, 1. Februar, es dauert bis 5. Februar – und bei dieser Ausgabe von "Litauen tanzt" tanzt erstmals auch mit Tanz- und Performancekünstlern aus Estland ein baltisches Nachbarland mit.

Das Festival findet im Dock 11, Kastanienallee 79, statt. Das Stück "Bunte Spiele" für Kinder bis drei Jahren ist im Theater an der Parkaue, Parkaue 29, zu sehen. www.litauentanzt.com

Internationale Vernetzung

Von der beginnenden internationalen Vernetzung der litauischen Tanzszene zeugt das Padi Dapi Fish Dance Theatre. Annika Ostwald und Agnija Seiko haben in Litauen, in den Niederlanden und in England studiert. Ihre Performance „Lucky Lucy“ entwickelt sich in jeder Stadt anders; über Kopfhörer hört der Besucher Texte, die mit wenigen Sätzen ganz unterschiedliche ­Situationen evozieren, vom Eingeschlossensein, von Angst, vom Beobachtetwerden, vom Verstecken, vom Unglück. Sie werden während eines Walks auf eine jeweils andere Stadt projiziert.

In Vilnius war man damit in älteren Siedlungen, zwischen alten Villen, Gärten und angegammelten Bauten der Nachkriegszeit unterwegs, blickte von Hügeln auf die neu entstandenen Stadtviertel und sah den Umbruch in jedem Detail. Geführt wurde man dabei von den beiden Choreografinnen, die dabei auch immer wieder auf Verfolger stießen und wegliefen. Eine leicht unheimliche und bedrohliche Szenerie. Man kann gespannt sein, was in Berlin aus „Lucky Lucy“ wird.

Das Dock 11 war von Anfang an Partner und damit auch Ermöglicher des Festivals. Diesmal kommt das Theater an der Park­aue hinzu und, für die Kuratorin In­grida Gerbutavičiūtė ganz wichtig, ein Austausch mit dem Zentrum für Bewegungs­forschung, das Ga­brie­le Brand­stet­ter an der Freien Universität Berlin leitet.

In Litauen, sagt die Kuratorin, fehlt es bisher an Tanztheoretikern und Tanzkritik, ebenso an einer wissenschaftlichen Basis für den Tanz. „Deswegen freue ich mich sehr, dass Professorin Gabriele Brandstetter großes Interesse daran gezeigt hat, den wissenschaftlichen Austausch anzufangen“, sagt In­grida Ger­bu­tavičiūtė.