Iran erwarten, Europa finden

STARKE WELLE Mit „Istanbul Next Wave“ zeigt die Akademie der Künste gleich dreimal Kunst aus der Türkei. Istanbul ist dabei weder die orientalische Märchenstadt noch die glitzernd-moderne Schnittstelle zwischen Ost und West

■ „Istanbul Modern Berlin“ im Martin-Gropius-Bau. Arbeiten von 1928 bis 2008 aus der Sammlung des Istanbul Modern, bis 17. 1. 2010. Mi.–Mo. 10–20 Uhr■ „Boden unter meinen Füßen, nicht den Himmel“ in der Akademie der Künste, Pariser Platz. Siebzehn Künstlerinnen aus Istanbul, bis 3. 1. 2010. Di.–So. 11–20 Uhr ■ „Sechs Positionen kritischer Kunst aus Istanbul“ in der Akademie der Künste, Hanseatenweg, bis 17. 1. 2010, Di.–So. 11–20 Uhr■ Katalog: Istanbul Next Wave. Gleichzeitigkeit – Parallelen – Gegensätze. Moderne und zeitgenössische Kunst aus Istanbul. Herausgegeben von Johannes Odenthal, Çetin Güzelhan. 220 Farbabb., 244 S., 20 €

VON DILAY YALCIN

Es ist die größte Ausstellung türkischer Kunst, die je außerhalb der Türkei gezeigt wurde. „Istanbul Next Wave“ will drei Aspekte beleuchten: die Geschichte der türkischen Kunst, die Kunst türkischer Künstlerinnen und ausgewählte Beispiele einer kritischen Kunstpraxis. Als Türkin, die nicht in Deutschland lebt, fragt man sich angesichts dieser Fülle an Werken und Themen, was türkische Kunst den Deutschen wohl bedeuten mag.

Offensichtlich sind sie neugierig darauf. Auf die Türken sind sie schon länger neugierig. Allerdings hat sich diese Neugier noch nicht so recht in einen Prozess des Lernens verwandelt. Wird mit „Istanbul Next Wave“ also ein neuer Anlauf genommen? Und sind die Türken selbst überhaupt so weit, sich mit anderen Augen zu sehen?

Es ist sinnvoll, zuerst „Istanbul Modern Berlin“ im Martin-Gropius-Bau zu besuchen, wo 66 Arbeiten von 59 Künstlern präsentiert werden. Sie stecken beinahe hundert Jahre und verschiedene Perioden türkischen Kunstschaffens ab. Da sind etwa Werke von Ibrahim Çall zu sehen, der als Erster Nacktmodelle malte, aber auch von Sarkis, dessen Klang- und Videoarbeiten zu den bedeutendsten in der Türkei gezählt werden. Gezeigt werden Arbeiten des Malers Zeki Kocamemi, der in den Zwanzigern ein Schüler Hans Hoffmanns war. Aber auch Nejat Melih Devrim, einer der Pioniere abstrakter Malerei, ist vertreten. Die Filme Gülsün Karamustafas wiederum sind stark von der politischen Gewalt in der Türkei der 1970er und 80er beeinflusst. Ihre Arbeiten sind chronologisch geordnet. Der Parcours führt die Besucherin so durch einen Tunnel der Bilder aus der Vergangenheit in die Gegenwart.

Unbefolgte Gesetze

In den Räumen der Akademie der Künste am Pariser Platz sind Werke von 17 Künstlerinnen zu sehen. Der Titel „Boden unter meinen Füßen, nicht den Himmel“ bezieht sich auf eine Parabel des Propheten Mohammed, die deutlich machen sollte, dass der Respekt vor der Mutter Voraussetzung fürs ewige Seelenheil ist: „Der Himmel liegt unter den Füßen der Mütter“. Die Rolle der Frau als Ernährerin, die ihr nicht nur im Islam, sondern traditionell auch im Okzident zugedacht ist, wird in beinahe allen gezeigten Werken verarbeitet.

Es hat schwerwiegende Konsequenzen, ein junges Mädchen in der Türkei zu sein, zu heiraten und Ehefrau und Mutter zu werden, zeigt sich hier. Gülçin Aksoy’s „Burma Bilezik“ zeichnet eine Hochzeit als kommerzielles Ereignis. Ein Kredit muss aufgenommen werden, damit sie überhaupt stattfinden kann. Nezaket Ekici’s „Umgestülpt“ geht die Sache metaphorischer an. Ihr Video zeigt, wie sie einige Minuten kopfüber von der Decke hängt.

Nazli Eda Noyan hat für „Bittere Wahrheiten“ Teile der türkischen Verfassung auf Papier geschrieben, mit dem sonst Simits, die traditionellen Sesamringe, eingewickelt werden. Da ist der Paragraf zu lesen, der Frauen das Recht auf Arbeit garantiert, das ihnen auch ihre Ehemänner nicht nehmen dürfen. Noyans Arbeit regt zusammen mit den ebenfalls gezeigten verschleierten und unverschleierten Selbstporträts von verschiedenen Malerinnen zum Nachdenken über die klassische Position an, dass die Probleme der türkischen Frauen sich dem Zusammenprall von Tradition und Moderne verdanken. Vielleicht lässt sich viel präziser sagen, dass es sich um einen Zusammenprall von Tradition und Gesetz handelt. Wobei das Gesetz zwar existiert, die Frauen aber nicht beschützt.

„Was ist ein Türke?“

Ipek Dubens Filmprojekt „Was ist ein Türke?“ dagegen handelt von der Notwendigkeit, die Türkei zu definieren. Duben bat Leute aus verschiedenen Ländern, ihre eigenen Erfahrungen mit der Türkei damit zu vergleichen, was sie vorher über sie dachten und was ihnen über das Land beigebracht worden war. Die hier formulierten Ideen ähneln denen vieler Westler, die Iran erwarten, aber Europa finden, wenn sie nach Istanbul reisen.

In den Räumen der Akademie der Künste am Hanseatenweg schließlich werden „Sechs Positionen kritischer Kunst“ aus Istanbul gezeigt. Darunter der Antimilitarist Altan Gürman, der einer der wichtigsten politisch agierenden türkischen Künstler ist, und Sükran Moral, die immer wieder mit feministischen Themen provoziert. Sie und die anderen hier gezeigten Kollegen haben jeder auf seine Weise die Vorstellungen der Türken von Kunst verändert.

Halil Altindere glaubt, dass im Ausland von türkischen Künstlern ein bestimmter Diskurs erwartet werde

Neue Sprechweisen fordern

Viele ihrer Arbeiten lösten zu ihrer Zeit einen Schock aus, dennoch scheinen sie einer anderen Zeit anzugehören. Dies wird umso deutlicher, wenn man Halil Altinderes Arbeit vor der Akademie betrachtet. Er zeigt hier ein deutsches Polizeiauto, das umgestürzt auf dem Dach liegt. Altindere glaubt, dass im Ausland von türkischen Künstlern ein bestimmter Diskurs erwartet werde. Diese Haltung sei von orientalistischen Stereotypen bestimmt. „In den Neunzigern ist aber eine andere Form des Sprechens entwickelt worden. Man muss sich vor solchen Erwartungen schützen.“

Die Notwendigkeit neuer Sprechweisen ist offensichtlich. Istanbul ist populär in Berlin. Viele sprechen gern über Istanbul, und sie haben anscheinend nicht erwartet, bei Besuchen eine so spannende Stadt vorzufinden. Dabei sind die Erwartungen, die dann von der hochmodernen Seite Istanbuls auf positive Weise enttäuscht werden, ja dennoch alles andere als falsch. Istanbul ist eben auch die Stadt, in der simple Regenfälle vor Kurzem viele Opfer gefordert haben. Es scheint also weder richtig zu sein, das exklusive Bild einer modernen Stadt zu zeichnen, noch ist es angebracht, die Realität hinter orientalistischen Fassaden zum Verschwinden zu bringen.

Um zu einem vielleicht zutreffenderen Bild von Istanbul zu gelangen, gilt es, das ständige Vergleichen von Tradition und Moderne, Ost und West sein zu lassen. Diese Ausstellungen jedenfalls können dazu einen ersten Anstoß geben. Die nächsten Wellen werden dann womöglich auf noch größeres Interesse im Westen stoßen.

Aus dem Englischen von Ulrich Gutmair

■ Dilay Yalcin schreibt in Istanbul für die Tageszeitung Radikal. In Berlin ist sie mit einem internationalen Journalistenprogramm