: Selbst sehen, was los ist
Bühne Das Stück „Lesbos – Blackbox Europa“ bildet die Flüchtlingspolitik mit Vor-Ort-Erfahrungen ab
Berge von Schwimmwesten sind auf den Videowänden in der Box des Deutschen Theaters (DT) zu sehen. Sie bilden die industrielle Dimension der Landung Hunderttausender Geflüchteter auf der griechischen Insel Lesbos ab. Regisseur Gernot Grünewald war im Sommer 2016 für acht Tage mit seinem Schauspielteam auf der Insel, als sie die Halden aus Schwimmwesten sahen. Sie waren zugegen, als Boote anlandeten; sie machten davon aber keine Bilder aus Respekt vor den Geflüchteten. Sie waren im EU-Refugee-Hotspot Moira – einige Wochen bevor Brandstiftung und Kämpfe das Lager mal wieder in die weltweiten Schlagzeilen brachten.
Sie besuchten auch Lager, die komplett ausgebaut waren, in denen etwa ein Dutzend Mitarbeiter die Infrastruktur aufrecht erhielt, die aber keinen einzigen Geflüchteten beherbergte. „Gespenstische Leere“ konstatierte Grünewald bei dieser Begehung.
Selbst sehen, was los ist – das war der erste Impuls von Gernot Grünewald bei der Vorbereitung seines neuen Stücks „Lesbos – Blackbox Europa“, das heute in der Box des DT uraufgeführt wird. Also eiste er sein Team aus dem Repertoirespielbetrieb des DT los. Grünewald wollte mit der gemeinsamen Reise eine Vermittlungsebene des Dokumentartheaters überspringen. „Oft erzählt der Regisseur den Schauspielern etwas, was ihm andere erzählt haben. Jetzt sollen die Schauspieler aus eigenem Erleben heraus agieren können“, meint er.
Ein Befindlichkeitsstück, in dem auf Sensibilität programmierte Reisende aus dem Herzen Europas erzählen, ist von „Lesbos – Blackbox Europa“ aber nicht zu erwarten. Struktur geben dem Stück die Interviews von Personen, die auf der Insel leben und arbeiten: Mitarbeiter von NGOs, lokale Gastwirte, die den Rückgang des Tourismus beklagen. Ein britischer Künstler, der sich Lesbos als Rückzugsort auserkoren hatte und angesichts des ganzen menschlichen Elends vor seiner Terrasse zum freiwilligen Helfer wurde, ist auch unter den Befragten.
So ergibt sich ein vielschichtiges Panorama. Der Zusammenhang von internationaler Politik und der Dimension des Schiffsverkehrs vor Ort wird deutlich. „Die Menschen, mit denen wir auf Lesbos sprachen, waren überzeugt davon, dass die türkische Küstenwache reguliert, wie viele Boote durchkommen“, erzählt Grünewald im Interview. 50 bis 100 Geflüchtete kommen täglich neu an, meint er.
Bitter-absurde Momente entstanden, wenn Grünewald etwa von 15-Euro-Tickets auf den Touristenfähren von der Türkei nach Lesbos erzählt und den 600 bis 3.000 Euro, die eine Fahrt im Schlauchboot – je nach Saison und Bestechungskosten für das türkische Küstenschutzpersonal – kostet.
Auch die Lage der Geflüchteten wird deutlich. Viele, die im April 2016 in den Hotspot gebracht wurden, harren dort noch immer aus. Sie wissen nicht, wie ihr Asylantrag beschieden wird, wissen nicht einmal, wann die Entscheidung fällt. Wie mangelhaft ihre Unterbringung ist, zeigten aktuelle Berichte während des Kälteeinbruchs dort.
„Lesbos – Blackbox Europa“ ist auch teamintern ein Begegnungsstück. Der Schauspieler Thalfakar Ali konnte nicht mit nach Lesbos, weil das Asylverfahren des gebürtigen Irakers noch läuft und er Deutschland nicht verlassen darf. Lesbos-Erfahrung hat er dennoch. 2015 führte ihn seine eigene Flucht über die Insel. Und während man als Westeuropäer nur staunen mag über die Berge von Rettungswesten und hofft, dass diese Westen nicht ohne ihre Träger an Land gespült wurden, berichtet Thalfakar Ali über die mindere Qualität dieser Westen. Sie saugten sich nach 90 Minuten voll und täten gerade nicht das, was sie tun sollten: Leben retten. Noch so ein zynisches Nebengeschäft von – in diesem Fall türkischen Händlern – im europäisch-asiatisch-afrikanischen Migrationsszenario.
Tom Mustroph
26. und 27. 1., 19.30 Uhr, 5. und 19. 2., 19 Uhr, 26. 2., 19.30 Uhr, Black Box im DT
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