: Hoffnungsvoll, ausgelassen, jugendlich
REVOLUTIONSTAGUNG Massenandrang beim Salon Sophie Charlotte der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissen-schaften, selbst Angela Merkel war da
von Sonja Vogel
Es hatte am Samstagabend im vollen Haus der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften gerade für eine Einführung ihres Präsidenten Martin Grötschels zu den vergangenen großen Revolutionen gereicht: die Oktoberrevolution, die Reformation, Mauerfall und Arabischer Frühling. Da gab es eine Unterbrechung. Etwa 40 junge Studierende stürmten die Bühne, bevor die Präsidentin der Humboldt-Universität, Sabine Kunst, sprechen konnte.
Ihr Anliegen: Protest gegen die Kündigung Andrej Holms. Der Stadtsoziologe hatte wegen falscher Angaben zu seiner Stasi-Vergangenheit seinen Job als Berliner Baustaatssekretär verloren und war dann von der HU gefeuert worden. Die Studierenden warfen Kunst darum vor, „zur Zersetzung von Kritik an der Uni“ beizutragen. Viel konnten die rund 500 ZuhörerInnen indes nicht verstehen, schnell wurde das Mikro abgedreht. „Ihr stört!“, brüllte ein Gast, und dann noch einer. Und so war der Protestspuk schnell vorbei. Sabine Kunst betrat das Podium. Weiter ging es im Programm.
Eigentlich hätte sich der Salon Sophie Charlotte, das 12. Symposium der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, eine passendere Einführung in das diesjährige Thema nicht wünschen können. Unter dem Titel „Rebellionen, Revolutionen oder Reformen“ widmeten sich 50 Vorträge, Performances und Diskussionen den Voraussetzungen und Nachwirkungen historischer und möglicher kommender Aufstände, den Epochenwechseln in Technik oder Kunst.
Der Historiker Étienne François sprach darum vom „Zwiespalt“, in dem sich die Veranstaltung befinde. Die Rede von der Revolution komme ihm heute nostalgisch vor, in diesem Protest aber habe er die Utopie aufscheinen sehen: „Das war wie ein Revival von 1968, nur besser erzogen als die Eltern.“ Damit war er im Herzen des Themas des ersten Podiums: „Ist Europa zu alt für Revolutionen?“
Und wer könnte die Hinwendung zum Reformweg besser erklären als ein geläuterter Straßenkämpfer, der Minister wurde, und dann in die Wirtschaft wechselte? Joschka Fischer sprach über das Missverständnis von der Revolution. „Mit dem Alter erkennt man eine Revolution“, sagte Fischer und verwies auf den Spanischen Bürgerkrieg, wo die Aufständischen nicht nur gegen die Faschisten kämpften. „Mielke verdiente sich seine Sporen hinter der Front“, sagte er – ein Seitenhieb auf die UnterstützerInnen Andrej Holms. Dies sei für ihn das „Ende der Illusion“ gewesen.
Fischers abgeklärtes Resümee: Er habe verstanden, dass man Geschichte nicht einfach „machen“ könne, sondern besser mit Einrichtungen wie dem „deutschen Sozialstaat“ beeinflusse. Die Frage heute sei zudem viel simpler, nämlich wie neun Milliarden Menschen einigermaßen friedlich zusammenleben könnten.
Der Attac-Gründerin Jutta Sundermann reichte das nicht. Zwar distanzierte auch sie sich vom Begriff der Revolution, verwies aber auf den katastrophalen Zustand der Welt, die Gleichzeitigkeit von Hunger und ausreichender Nahrungsmittelproduktion. „Die Globalisierung ist kein Naturgesetz“, sagte sie. „Unternehmen können so gigantisch groß werden, weil es Strukturen für sie gibt.“ – „Dann gehen Sie ins Parlament!“, konterte Fischer.
Die Abwendung von einer wie auch immer sich utopisch verstehenden revolutionären Bewegung spitzte der Politologe Herfried Münkler noch zu. Europa habe eine Revolution gar nicht nötig, meinte der Berliner Politikwissenschaftler. Seine Begründung: „Das politische System gibt mehr Möglichkeiten zu partizipieren, als wir wahrnehmen können.“ Und so war man sich nach eineinhalb Stunden einig in der Ablehnung einer revolutionären Umwälzung, allerdings gepaart mit dem Wissen um die Reformbedürftigkeit bestehender Gesellschaften. Und auch wissend, dass Gerechtigkeitsreformen nie leicht zu erreichen sind.
Weniger abgeklärt ging es bei den Diskussionen zu den jüngeren Aufständen zu. Neben den Runden zur anhaltenden Umgestaltung Lateinamerikas durch Linkspopulisten, zu den Folgen des Bürgerkriegs nach der Russischen Revolution für das heutige Russland oder zur revolutionären Geschichte der chinesischen KP, waren die Panels zum Scheitern der Arabischen Aufstände besonders gut besucht. Vor allem junge Leute wollten der Diskussion „Arabischer Frühling, arabischer Winter“ über Tunesien, Algerien und Syrien zuhören.
Vielleicht seien die Protestierenden im arabischen Raum genauso wie viele Berliner historisch zu gut erzogen, um eine Revolution zu starten, so der Politikwissenschaftler Rachid Quaissa. Außerdem hätten in Kairo 2011 die einrückenden Panzer Dutzende Menschen unter sich begraben. Gewalt schrecke gemäßigtere Kräfte immer ab.
Doch waren die sehr verschiedenen Proteste für mehr Demokratie und Gleichheit in Ägypten überhaupt revolutionär? Dass die Hälfte der Bevölkerungen jünger als 30 ist, bezeichnete Quaissa als ein „revolutionäres Moment“, das allerdings noch nicht automatisch Revolutionäre hervorbringe. Deren Abwesenheit sei das Hauptproblem gewesen. Der Politikwissenschaftler verwies auf seine Erfahrung: Als 17-Jähriger hatte er 1988 an den Oktoberunruhen in Algerien teilgenommen. Die Demokratiebewegung mündete schließlich in einem Bürgerkrieg zwischen autoritärem Staat und Islamisten, mit Zehntausenden Opfern in den 1990er Jahren. Nahostexperte Volker Perthes schloss hier an. „Rückblickend gab es auch 2011 keine Revolution. Die Aufstände wurden niedergeschlagen oder in Bürgerkriege verwandelt wie in Syrien“, so Perthes.
Das syrische Regime habe dabei vom ägyptischen gelernt: Assad räumte nicht das Feld, er eskalierte militärisch, sagte Perthes. Er griff die sich ausdifferenzierende Gesellschaft an, zerstörte die Verbindung zwischen Stadt und Land und verhinderte eine Allianz der Aufständischen. Die Abhängigkeit der Mittelschichten vom Staat, so ergänzte Quaissa, habe dann dazu geführt, dass diese auf der Seite von Regierung und Armee verblieben. „Anders als in Europa sind wir nicht in der Lage eine Revolution zu gestalten“, endete Quaissa provokativ. Die Landbevölkerung hingegen, die schon Frantz Fanon als revolutionäres Subjekt galten, floh in Syrien in die Städte und zum Teil weiter nach Europa. Viele ließen sich tatsächlich revolutionär aktivieren – allerdings auch für den „IS“. Die Voraussetzungen für eine Revolution im Nahen Osten und Nordafrika seien denkbar kompliziert. Neben der Verquickung regionaler und internationaler Konflikte, präferiere auch der Westen Stabilität um jeden Preis.
Volker Perthes indes ist nicht so pessimistisch. Am Beispiel von Tunesien brach er eine Lanze für eine schrittweise Demokratisierung. Obwohl es an einer Übersetzung der Proteste in wirtschaftlichen Wohlstand fehle, sei „die Qualität der Menschenrechte heute größer“. „Ich bin für Elitenpakte mit Reformen, die sind verträglicher für die Menschen“, so Perthes.
Bis Mitternacht war der Andrang im Akademiehaus riesig. Wer nicht in die übervollen Räume passte, diskutierte auf den Gängen und lauschte Revolutionsliedern, gesungen von Hanna Schygulla. Um aktuelle Politik ging es indes nicht. Und so verharrte das Symposium im „Stadium der Metaphorik“, wie Herfried Münkler Europas Beziehung zur Revolution genannt hatte.
Die Zweischneidigkeit des Themas wurde auch bei der Frage, ob der „Umsturz 1989/1990“ eine Revolution gewesen sei, deutlich. Die Stasibeauftragte Marianne Birthler plädierte da für Revolution wie es auch der Chemiker (und Ehemann von Angela Merkel) Joachim Sauer tat. Der Historiker Jürgen Kocka sprach von „einem revolutionären Wandel ohne Revolution“, der Theologe Richard Schröder von einer „ans Lächerliche grenzende Bemühung um Legalität“.
Hier war die Laune des Publikums besonders gut, ganz so, wie Étienne François die revolutionäre Euphorie beschrieben hatte: hoffnungsvoll, ausgelassen, jugendlich. Der Grund dafür war die Anwesenheit von Angela Merkel, die ihren Gatten begleitet hatte. Die Bundeskanzlerin als heimlicher Stargast eines Symposiums zur Revolution? Das ist wirklich paradox.
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