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Alke Wierth fragt sich, was heute ausreicht, um lebendig zu erscheinenImmer schön alles bezahlt

Irgendwie passieren in den letzten Monaten und Wochen eine Menge schlimmer Dinge in dieser Stadt. Dinge, die uns so erschüttern, dass sie uns darüber nachdenken lassen, was eigentlich das Gerüst unseres Zusammenlebens ist. Oder nicht? Das ist vielleicht, wenn man das überhaupt schreiben darf, die einzig gute Folge dieser schrecklichen Taten.

Da ist nun ein Mord aufgeklärt worden in der Pankower Hosemannstraße. Normalerweise befassen wir uns in der taz selten mit Mordfällen. Aber dieser ist eine Besonderheit.

Ein alter Mann wurde gefunden, tot in seiner eigenen Kühltruhe in seiner Wohnung. 90 Jahre wäre der Rentner heute alt, lebte er noch. Aber er ist bereits seit zehn Jahren tot. Dass das niemand merkte – fast niemand, aber dazu kommen wir noch –, liegt Berichten zufolge wohl auch daran, dass seine Miete und seine Stromrechnungen immer pünktlich bezahlt wurden, auch Handwerker kamen, wenn nötig, in die Wohnräume – alles, wie wir jetzt wissen, organisiert vom Täter.

Das reichte offenbar, um den Mann – jedenfalls in Behördenaugen – am Leben zu erhalten. Denn es gab da durchaus einen Anwohner, der – so schreibt es der Tagesspiegel – , schon vor Jahren Verdacht schöpfte, dass seinem Nachbarn etwas zugestoßen war. Er hatte vorher öfter mit dem alten Herrn gesprochen. Dann war der plötzlich nicht mehr da.

Doch seine Hinweise an Polizei und Vermieter seien nicht ernst genommen worden, berichtet der Nachbar. Der Mann habe sich eben sehr häufig „aufgrund unheimlich vieler Angelegenheiten an uns gewandt“, zitiert der Tagesspiegel die Erklärung der vermietenden Genossenschaft dafür. Das kann man wohl getrost lesen als: Der aufmerksame Nachbar galt dort als Querulant.

Und vielleicht war er das ja auch, vielleicht sah die Hausverwaltung, deren MitarbeiterInnen ja Erfahrung im Umgang mit MieterInnen haben, gute Gründe, den Mann und seine Sorge nicht ernst zu nehmen. Darüber kann und soll hier nicht geurteilt werden.

Erschütternd ist das Bild, das an der Oberfläche entsteht: Da ist der Nachbar, der mit dem Rentner früher „auf dem Balkon gesessen und geplaudert“ hat, ihn dann plötzlich nicht mehr sah und sich Sorgen machte. Und da sind Zahlungsvorgänge, die regel- und vorschriftsmäßig weiter gehen. Der menschliche versus den bürokratischen Faktor. Letzterer war hier offenbar Anlass, ersteren nicht ernst zu nehmen.

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