Ein Isländer ist doch keine lahme Ente

handball Dagur Sigurdsson betreut bei der WM in Frankreich zum letzten Mal die DHB-Auswahl. Doch von Müdigkeit, Autoritätsverlust oder mangelnder Motivationsfähigkeit ist nichts zu sehen. Er hat die Mannschaft selbstständig gemacht

Räumt bald den Stuhl: Dagur Sigurdsson Foto: Murat/dpa

aus Rouen Michael Wilkening

Der Begriff der lahmen Ente, einer „lame duck“, entspringt der Tatsache, dass Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika immer noch einige Wochen im Amt verweilen, auch wenn sie schon abgewählt worden sind. Barack Obama ist aktuell eine „lame duck“. Bei der heute, 17.45 Uhr, mit dem Spiel gegen Ungarn für das deutsche Team startenden Handball-Weltmeisterschaft gibt es eine ähnliche Konstellation, denn das Ende von Dagur Sigurdssons Amtszeit ist ebenfalls besiegelt. Zu einer lahmen Ente wird der Isländer aber nicht werden.

Allerdings erfolgt das Ende von Dagur Sigurdssons Tätigkeit als Trainer der deutschen Handball-Nationalmannschaft freiwillig. Er räumt seinen Platz nach der Weltmeisterschaft in Frankreich aus freien Stücken.

Als Europameister startet die von ihm betreute Auswahl als Mitfavorit in das Turnier. Nach der feststehenden Demission von Sigurdsson beim Deutschen Handballbund (DHB) gibt es Beobachter, die ihm vorhersagen, dass er die Mannschaft nicht mehr erreicht, sie nicht mehr motivieren kann, nicht mehr ernst genommen wird.

Diese Prognostiker werden irren: Sigurdsson ist weiterhin ein starker Lenker und er hat seine Mannschaft unabhängig von ihm selbst gemacht. Und diese Leistung ist wertvoller als ein Titelgewinn.

Bob Hanning hätte Anfang November Grund gehabt, hektisch oder nervös zu sein. Tage zuvor war durchgesickert, dass der Trainer der deutschen Handballer mit einem Abschied liebäugelt, und natürlich musste diese Nachricht den Vizepräsident für Sport beim DHB beschäftigen. Aber Hanning saß vollkommen ruhig auf einem Stuhl und lächelte. Er ahnte, dass sich die Wege des erfolgreichen Trainers und des DHB trennen und Sigurdsson in Frankreich letztmals die Nationalmannschaft anleiten würde. Aber es beunruhigte ihn nicht.

„Die Autorität von Dagur wird kein bisschen darunter leiden“, sagte Hanning vor zwei Monaten voraus und hat bis heute keinen Grund gefunden, warum er von dieser Meinung auch nur ein bisschen abweichen sollte.

Vor zweieinhalb Jahren trat Sigurdsson seinen Dienst als Bundestrainer an, als die Mannschaft nach der Qualifikation zur Europameisterschaft gerade auch die zur Weltmeisterschaft auf sportlichem Weg verpasst hatte. Im Kader standen Spieler, ohne Erfolg, die ohne Glauben an sich schon am geringsten Widerstand zerbrachen. „Dagur hat taktisch viel bewegt, aber in erster Linie hat er jedem Spieler einen neuen Glauben gegeben“, sagt Hanning.

Vor einem Jahr stürmte daraufhin beim Turnier in Polen ein Haufen junger und bis dahin unbekannter Männer ins Finale der Europameisterschaft und zerlegte dort den Favoriten Spanien auf imponierende Art und Weise.

„Dagur hat jedem Spieler einen neuen Glauben gegeben“

Bob Hanning, DHB-Vizepräsident

Der Titelgewinn war das Werk des Isländers, der seine Spieler mit wenigen, aber eindringlichen Worten auf ein Niveau hob, das keiner von ihnen vorher für möglich gehalten hatte. Zu diesem Zeitpunkt hing die Entwicklung der deutschen Mannschaft an ihrem Trainer, er war seinem Team noch voraus. Sigurdsson besitzt die Gabe, seine Spieler von ihrer Stärke zu überzeugen, deshalb folgen sie ihm und reifen an seiner Seite.

Bei den Olympischen Spielen im vergangenen Sommer standen zum großen Teil die gleichen Spieler auf dem Feld, aber eine andere Mannschaft. Sie arbeitete auf Zuruf ihres Trainers, hatte sich aber von ihm emanzipiert, weil sie erwachsener werden durfte. In Stresssituationen waren die Spieler in der Lage, eigenständig Lösungen zu finden. Aus diesem Grund wird das Verhältnis zwischen Coach und Team bei der anstehenden WM in Frankreich vermutlich keine Risse bekommen.

Ein feststehender Abschied muss ohnehin nicht zwangsläufig zu einem Spannungsabfall zwischen dem Trainer und seinen Spielern führen. Das bekannteste Gegenbeispiel sind Jupp Heynckes und der FC Bayern im Frühjahr 2013. Nachdem Heynckes der Mannschaft mitgeteilt hatte, nach der laufenden Saison aufzuhören, schwangen sich die Münchner zu großartigen Leistungen auf und bescherten ihrem Trainer mit dem Gewinn des Triples aus Meisterschaft, nationalem Pokalsieg und Champions-League-Gewinn einen rauschenden Abschied.

Eine Nummer kleiner würde schon reichen, damit Dagur Sigurdsson nach der Weltmeisterschaft in Frankreich nicht als „lame duck“ des deutschen Handballs in Erinnerung bleibt.